Wostok-Newsletter 8/2001

Zeit des Machbaren - Rußland auf dem Weg zur Regionalmacht?
Hat Georgien Abchasien schon verloren?
Georgien hat viele Vorleistungen erbracht - nun ist Rußland an der Reihe
Projekte zur Reform der russischen Geheimdienste
Wahlgesetzgebung in der Ukraine verabschiedet
Moldowa in der Falle? Vom "Stempelkrieg", falschen Partnern und westlichem Desinteresse
Die neue Regierung der Republik Belarus
Die Position der usbekischen Regierung
In Swerdlowsk Gesetze per Dekret des Gouverneurs angepaßt

Auszüge:

Zeit des Machbaren - Rußland auf dem Weg zur Regionalmacht?
von
Pjotr Borowoi, Journalist, Moskau


Das politische Handeln der russischen Führung und die politischen Diskussionen im Hintergrund gestalten sich derzeit trotz mancher Widersprüchlichkeiten recht einfach.

Nach den Anschlägen vom 11. September in New York und Washington ist der russische Präsident Putin rasch an die Seite der Antiterror-Allianz getreten und hat laut über den Beitritt zur NATO nachgedacht. Gleichzeitig wird aber mißtrauisch beobachtet, wie sich die USA im nahen Ausland "breitmachen", zumal nicht absehbar ist, ob sie sich dort nicht auf Dauer niederlassen werden.

Die russische Politik sieht sich in Zentralasien trotz aller anderslautenden Verlautbarungen letztlich an den Rand gedrängt. Denn die dortigen Machthaber haben ihre Chance erkannt und suchen sich aus der manchmal erdrückenden Umarmung des großen Nachbarn zu befreien. Da der Westen nun weniger Probleme mit den Formen ihres Regierens im Inneren hat, hoffen sie darauf, in ihrer Herrschaft auf Jahre stabilisiert und sanktioniert zu werden. Denn schließlich haben die Regimes nach ihrer Ansicht schon seit Jahren einen Kampf gegen Terrorismus und Extremismus geführt. Sie wurden darin allerdings in den letzten Jahren von den westlichen Staaten häufig kritisiert, da oft unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Radikalismus politische Gegner ausgeschaltet und in die Gefängnisse geworfen wurden. Jetzt sind diese Stimmen nahezu verstummt, da man die neuen unabhängigen Staaten in Zentralasien und vor allem Usbekistan und Tadschikistan als Aufmarschgebiet benötigt.

So hieß es im November im usbekischen Fernsehen, daß das Anfang Oktober unterzeichnete Abkommen über die Zusammenarbeit zwischen den USA und Usbekistan im internationalen Kampf gegen den Terrorismus auch nach dem Ende der Militäraktion in Afghanistan gültig bleibe und damit auch der bereitgestellte Militärflughafen Chatanab weiterhin den USA zur Verfügung stehe. Von dort agieren übrigens auch die 90 Offiziere des NATO-Mitgliedes Türkei, die die Nordallianz beraten.

Der tadschikische Präsident Rachmonow hat den USA gleich drei Stützpunkte angeboten. Nach Angaben des Pentagons prüft man derzeit Stützpunkte bei Kuljab, Chodschand und Kurgan-Kube. Es deutet sich also an, daß sich die USA auf länger in Zentralasien einrichten und sich damit den vielbeschworenen Zugriff auf die riesigen Rohstoffreserven der Region sichern. Folgt man damit vielleicht doch den Vorstellungen des ehemaligen amerikanischen Sicherheitsberaters Brzezinski, der schon vor einigen Jahren gefordert hat, daß sich die USA, um ihre Position als Supermacht zu wahren, den Einfluß in Zentralasien und im Kaukasus und damit den Zugriff auf die Rohstoffvorkommen dieser Regionen sichern müßten?

Tauchen also hinter dem Staub des Krieges gegen den Terrorismus ganz einfache geostrategische Fragen, wie der Zugriff auf die Rohstoffe oder die Sicherung des Baus von Pipelines an Rußland vorbei in Richtung Indischer Ozean, auf?

Für die russischen Kommunisten, die am 7. November, dem Tag der Oktoberrevolution, im ganzen Land Demonstrationen mit zehntausenden Teilnehmern durchführten, ist es in jedem Fall ganz klar. "Putin tanzt nach der Pfeife der USA und zieht Rußland in den Krieg hinein", hieß es in ihrer Resolution zum Tag der Oktoberrevolution. Und der KP-Vorsitzende Sjuganow sagte bei der Abschlußkundgebung in Moskau, daß Amerika mit den Angriffen auf Afghanistan "seine Weltordnung durchsetzen will".

Die politische Führung und Putin selbst dagegen gehen nach außen sicheren Schritts in Richtung Antiterror-Allianz und betonen bei jeder Gelegenheit, daß Rußland insbesondere in Tschetschenien und auch jahrelang in Zentralasien den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus geführt hätte. Und mit einem lachenden und einem weinenden Auge blickt man in Richtung Zentralasien und die sich herausbildenden neuen politischen und strategischen Strukturen. Denn noch ist man sich nicht sicher, ob eine länger andauernde amerikanische Militärpräsenz oder eine kurzfristige schlimmer ist. Denn eigentlich hat Rußland weder Ressourcen noch wirkliches Interesse, die aus dem Krieg der USA und seiner Verbündeten in Afghanistan entstehenden neuen Konflikte und Krisen in Zentralasien allein zu lösen.

So scheint vieles in der russischen Politik aus der Schwäche heraus geboren zu sein oder aber auch aus der Erkenntnis, daß es bessere Mittel der Einflußnahme gibt, als irgendwo in der Welt Militärstützpunkte zu unterhalten, die man sich eigentlich nicht leisten kann. So wird Rußland nicht nur seinen Militärstützpunkt Cam Ranh in Vietnam aufgeben, sondern auch - und dies wird heftig kritisiert von russischen Militärs und der russischen Opposition sowie der kubanischen Regierung - seine Abhöranlage Lourdes auf Kuba.

Rußland zieht ab Januar 2002 seine Truppen aus Vietnam ab, da der Unterhalt des größten Stützpunktes der russischen Streitkräfte in Übersee zu teuer werde, wie Präsident Putin sagte. Die Sowjetunion hatte den Stützpunkt in Vietnam 1979 unentgeltlich gepachtet. Für die Zeit nach dem Auslaufen des Vertrags im Jahr 2004 verlangt die Regierung Vietnams für weitere zehn Jahre eine Pacht von 4,3 Milliarden DM.

Die riesige Abhöranlage Lourdes auf Kuba war den USA seit langem ein Dorn im Auge. Nach kubanischen Angaben hatte Präsident Putin noch bei seinem Besuch im Dezember 2000 zusammen mit Fidel Castro die Anlage, in der 1500 russische Soldaten stationiert sind, besichtigt und dabei nicht etwa von einer Schließung, sondern sogar von einer Modernisierung gesprochen. Anscheinend gebe Putin nun dem Druck der USA nach, schlußfolgert die kubanische Führung nun. Auch diese Schließung wird aber vor allem mit den jährlichen Kosten von fast 440 Millionen DM begründet, für die man, so Generalstabschef Kwaschin, 20 Aufklärungs- und Nachrichtensatelliten und 100 Funkmeßanlagen kaufen könne.

Die Frage der Kosten führt wohl auch zu einem Einlenken beim ABM-Vertrag. So deutet sich als "Kompromiß" an, daß die USA zwar den Vertrag nicht kündigen, aber trotzdem ihr Schutzschild bauen werden. Dafür werden aber beide Seiten ihre Atomsprengköpfe auf 2000 Stück reduzieren. Übrigens etwa die Zahl, die sich Rußland angesichts seiner maroden Armee noch leisten kann.

So trägt die russische Führung in vielen Fragen möglicherweise einfach der eigenen Schwäche Rechnung und konzentriert sich auf das Machbare. Die Moskauer Tageszeitung "Iswestija" kommentierte den Beschluß über die Schließung der Stützpunkte wie folgt: "Rußland verwandelt sich aus einem zähnefletschenden Imperium, das überall Feinde sieht, in ein zivilisiertes Land, das gleich unter Gleichen sein will. Den Abzug aus der Abhörstation Lourdes, die den Amerikanern jahrzehntelang ein Dorn im Auge war, kann man als den Beginn völlig neuer Beziehungen mit den USA sehen." Die "Nesawissimaja Gaseta" sieht es ein wenig anders, nämlich als die Reduktion Rußlands auf eine Regionalmacht: "Mit der Aufgabe russischer Militärobjekte in Vietnam und auf Kuba verabschiedet sich Rußland von den letzten Symbolen seiner einstigen Größe. Die Schließung russischer Militärstützpunkte liegt genau im Trend eines nicht von uns erarbeiteten Konzepts. Mit dieser Strategie soll die militärische Supermacht in eine Regionalmacht verwandelt werden mit Aktivitäten, die nicht über ihre eigenen Grenzen hinausgehen."

Die Frage wird sein, ob die russische Führung, die seit dem Amtsantritt von Putin stets darauf verwiesen hat, daß Rußland zur einstigen Größe zurückkehren wolle, der Bevölkerung die Reduktion auf eine Regionalmacht vermitteln kann. Viel wird davon abhängen, wenn man schon in Zentralasien an den Rand gedrängt wird, wie Rußland seinen Einfluß im Kaukasus stabilisieren kann. Allerdings gibt es auch hier Probleme und nicht nur mit dem Krieg in Tschetschenien. Beispielsweise sieht plötzlich der georgische Präsident Schewardnadse das NATO-Mitglied Türkei als einen Akteur, der im Abchasienkonflikt aktiv werden solle. Fakt bleibt, daß Rußland mit seinen Problemen im Kaukasus nicht vorankommt. Der Krieg in Tschetschenien führt zu immer weiteren Opfern und es zeigt sich, daß nur eine friedliche Übereinkunft mit dem tschetschenischen Präsidenten Maschadow eine Lösung näherbringen wird. Denn obwohl sich die halboffiziellen Nachrichtenagenturen tagtäglich mit Erfolgsmeldungen über "vernichtete" Terroristen nahezu überschlagen, dauert der Krieg an und fordert täglich neue Opfer auf beiden Seiten. Selbst nach den offiziellen Angaben sind mittlerweile mehr als 3500 russische Soldaten gefallen. Mitte September wurden beispielsweise bei einem Raketenangriff der Rebellen zwei Generäle und acht Obristen getötet. Zudem verfällt die eigene Armee zunehmend, denn die Offiziere sind vor allem damit beschäftigt, sich den Zugriff auf Hilfsgelder und Ölquellen zu sichern.

Anscheinend versucht nun der Kreml neue Wege einzuschlagen, so hat Putin (s. Dokumentation Wostok Newsletter 7/01 - Anm. d. Red.) in seinem Ultimatum vom 24. September 2001, in dem er die Tschetschenen zur unverzüglichen Waffenübergabe aufgefordert hatte, auch eine Aufforderung zu Verhandlungen versteckt. Hieß es doch, daß man Kontakte zu den Behörden aufnehmen solle, um Verfahren der Entwaffnung zu beraten. Als Verhandlungsführer wurde der Generalgouverneur für den Südlichen Föderationsdistrikt Kasanzew benannt. Der von Rußland zur Fahndung ausgeschriebene tschetschenische Präsident Maschadow wertete dies als "erstes persönliches Signal Putins, daß ein direkter Dialog möglich ist". Es deutet sich an, daß es im November zu Verhandlungen zwischen der russischen Führung und Vertretern des tschetschenischen Präsidenten kommen wird. Denn auch Maschadow steht seit dem 11. September unter stärkerem Druck, da ja, wie der deutsche Bundeskanzler Schröder erklärte, der Westen die Ereignisse in Tschetschenien "differenzierter" betrachten solle.

Problematisch wird nur, ob Rußland angesichts alter Ambitionen seine Politik tatsächlich auf seine Grenzen reduzieren kann, ohne seinen Einfluß gänzlich zu verlieren. Denn Abchasien, nichtanerkannte Republik in Georgien, hat gerade erklärt, es wolle assoziiertes Mitglied der Russischen Föderation werden. Es wird sich zeigen, wie sich der Unruheherd weiter entwickeln und welche Rolle Rußland spielen wird. Hier werden auch am ehesten Widersprüche in der russischen Führung sichtbar. Denn beim Abzug der Truppen aus dem Stützpunkt Gudauta in Abchasien verschwand zunächst, ein ganzer Zug mit Luftabwehrraketen, wobei die Abchasen die Aktion schon lange vorher angedroht hatten.

Problematisch für Rußland wird es zudem, wenn, wie jetzt geschehen, enge Verbündete wie der belarussische Präsident von polnischen Medien und dem amerikanischem Geheimdienst als einer der Waffenlieferanten der islamischen Fundamentalisten ausgemacht wird. Die belarussische Regierung weist diese Vorwürfe stets zurück, mit gleicher Regelmäßigkeit werden sie jedoch immer wiederholt. In jedem Fall gehört Belarus zu den größten Waffenexporteuren in der Welt, wobei es aber vor allem die Endproduktion für viele russische Waffensysteme übernommen hat.

Ob die Strategie der Regierung, die militärische Macht auf die eigenen Grenzen zu reduzieren, richtig ist, wird die Zukunft erweisen. Möglicherweise verliert Rußland angesichts der eigenen Schwäche weiter an Einfluß, wobei mit Sicherheit künftig andere Mittel, wie wirtschaftliche Einflußnahme, stärker eingesetzt werden. So kaufen russischen Konzerne nicht nur in Belarus und in der Ukraine ein Unternehmen nach dem anderen auf. Und kleine Regierungskrisen - siehe Georgien - kann man immer noch in die Wege leiten. Zur gleichen Zeit zeigt aber gerade Deutschland, daß ein Land, das sich über Jahre damit begnügte, westliche Militäreinsätze finanziell zu unterstützen und wirtschaftlich stark zu sein, die Zeit für gekommen hält, militärisch aktiv zu werden, um seine Interessen in Zentralasien und in der Welt zu schützen.
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Hat Georgien Abchasien schon verloren?

von
Tamar Nikoladse, Journalistin, Tbilissi


Neun Jahre lang währt der Konflikt zwischen Georgien und Abchasien bereits, und in diesem Oktober deutete sich wieder einmal eine gefährliche Eskalation an, als bewaffnete Kräfte ins untere, von Abchasien kontrollierte Kodorital eindrangen. Wer die Eindringlinge nun genau waren, ist zwischen Tbilissi und Suchumi strittig. Auch gehen die Meinungen darüber weit auseinander, wer im Hintergrund der Aktion tatsächlich die Fäden gezogen hat.

Am 18. Oktober erklärte das von Tbilissi nicht anerkannte abchasische Verteidigungsministerium, man habe die Situation unter Kontrolle und die Eindringlinge hätten Abchasien wieder verlassen.

Nicht lange währte die trügerische Ruhe, erneut wurden Angriffe gemeldet, warnte Suchumi vor einem Zusammenziehen georgischer Partisanengruppen im von Tbilissi kontrollierten Teil des Kodoritals. Gleichzeitig wurde in Tbilissi gemeldet, daß russische Hubschrauber und SU-25-Flugzeuge die Dörfer Adsgara und Ptischi im Kodorital bombardiert hätten. Diese Flugzeuge seien aus dem russischen Luftraum gekommen.

Es scheint müßig, darüber zu spekulieren, ob es nun von Tbilissi unterstützte georgische Partisanen oder tschetschenische Terroristen waren. Die Verwicklung politischer Kreise in Tbilissi deutete zumindest die abchasische Seite mit der Behauptung an, sie könne Beweise vorlegen, daß von georgischer Seite Angehörige des Innenministeriums und der regulären Armee an den Angriffen beteiligt gewesen wären. Abchasien verweist diesbezüglich auf einen gefangenen Oberst der georgischen Armee. In die gleiche Richtung gingen laut russischen Medienberichten Äußerungen von Angehörigen der russischen Friedenstruppen, die mit GUS-Mandat in Abchasien Dienst tun. Sie gaben an, sie hätten Lastwagen mit Lebensmitteln, Schlafsäcken, Uniformen und anderen Militärutensilien gesehen, die unter Leitung des Persönlichen Bevollmächtigten des georgischen Präsidenten in diesem Gebiet Emsar Kwitsiani in den von Georgien kontrollierten Teil des Kodoritals gebracht worden seien. Ziel sei demnach gewesen, wenigstens teilweise die Kontrolle über die abtrünnige und nicht anerkannte Republik zu-rückzuerlangen. Wie ernst sind solche Meldungen in russischen Medien aber zu nehmen?

Gegen eine Teilnahme von Tschetschenen spricht, daß es kaum vorstellbar scheint, wie die Truppen in einer recht kurzen Zeit bis nach Abchasien hätten gelangen können. Zumindest nicht alleine, hierzu hätte es schon logistischer Unterstützung bedurft. Fragt sich von wem. Der tschetschenische Präsident Aslan Maschadow jedenfalls hat aufs schärfste zurückgewiesen, daß die von Gelajew geführten Tschetschenen auf seinen Befehl hin nach Abchasien gegangen seien. Bleiben also nur georgische Kräfte? Rußland verwies jedenfalls sofort darauf, daß die Tschetschenen aus dem Pankisital gekommen seien, und bemüht einmal mehr das bekannte Argument, daß Tbilissi tschetschenischen Terroristen Schutz gewährt, und forderte in einem Atemzug die bereits seit längerem angemahnte Schließung des tschetschenischen Zentrums in Tbilissi. Ein haltloses Argument, denn in der Tat sind Tausende tschetschenische Flüchtlinge mit Beginn des Putinschen Wahlkampfkrieges gegen Tschetschenien über die Berge nach Georgien geflohen. Fraglos ist heute die Situation in diesem Teil Ostgeorgiens extrem angespannt. Tbilissi argumentiert, man habe die Kinder, Frauen und ältere Menschen wohl kaum einfach zurückweisen können. Moskau hingegen versteift sich auf die Behauptung, Georgien habe tschetschenische Terroristen aufgenommen.

Was aber wäre dann das Ziel der Tschetschenen? Sollten sie die Seite gewechselt haben? Erinnert sei daran, daß in den Jahren 1992 und 1993 tschetschenische Milizen unter Führung von Schamil Bassajew und Ruslan Gelajew und, wie es damals immer wieder hieß, rekrutiert vom russischen Militärgeheimdienst, an der Seite der Abchasen gegen die georgische Armee kämpften. Nach zwei Tschetschenienkriegen, der Aufnahme Tausender Flüchtlinge aus Tschetschenien im georgischen Pankisital und der offensichtlichen Verbrüderung der Abchasen mit den Russen haben sie vielleicht tatsächlich die Seite gewechselt - wer weiß?

Viele haben auch angenommen, daß Tbilissi mit diesen Aktionen den Befreiungsschlag vorbereitete. Das erscheint jedoch ganz und gar unwahrscheinlich. Die georgische Armee ist schwach und aufgrund der schlechten Versorgungslage wohl auch wenig motiviert. Zudem sind Teile der inneren Truppen im Pankisital gebunden - zur Wahrung der Ordnung. Schließlich leben in den höher gelegenen Dörfern dieses Tales auch noch Georgier. Was für verheerende Folgen aber eine geschlagene Armee im Inneren des Landes haben kann, dies hat Georgien bereits schmerzhaft erfahren. Zudem drängt Georgien in die NATO. Wenn nun die Situation weiter destabilisiert wird, wird Tbilissi dabei kaum auf Zustimmung bei den NATO-Strategen stoßen. Und schon gar nicht nach dem 11. September, nach dem auch Rußland möglicherweise demnächst mit im NATO-Boot sitzt. Georgien hat zudem jüngst die ersten lokalen Wahlen mit der Begründung abgesagt, daß der Haushalt die für eine korrekte Wahldurchführung benötigten Mittel nicht hergebe. Für einen Krieg im eigenen Land sollen aber genug Mittel aufgebracht werden können? Das würde auf wenig Verständnis in der westlichen Wertegemeinschaft stoßen, und an dieser ist zumindest einem Teil der politischen Elite Georgiens gelegen. Sowohl die EU als auch die OSZE haben in Erklärungen darauf verwiesen, daß weitere Gespräche zur friedlichen Lösung des Konflikts geführt werden müssen.

Andere Stimmen sind aber auch zu hören: So, daß es eine von Rußland gesteuerte Aktion gewesen sei, um den Konflikt zu verschärfen und die russische Militärpräsenz nicht nur im Rahmen der GUS-Friedenskräfte, sondern auch in der russischen Militärbase Gudauta noch weiter zu verlängern. Entgegen der von Präsident Putin persönlich abgegebenen Erklärung, man werde die Militärtechnik und die Soldaten von Gudauta endgültig entsprechend den Verpflichtungen des Istanbuler OSZE-Gipfels abziehen, hat Rußland dies noch immer nicht vollständig getan. Teile des offiziellen Tbilissi vertreten daher die Position, daß Rußland offensichtlich kein Interesse an einer Stabilisierung der Situation in Georgien hat und einiges in Bewegung setzt, um Georgien nicht zur Ruhe kommen zu lassen und den Konflikt zu lösen (siehe Wortlaut der Montagsansprache Präsident Schewardnadses auf den Seiten 6 und 7 in diesem Newsletter). Aber die Russische Föderation scheint bei der Aufgabe von Gudauta mittlerweile endgültig einzulenken.

Man ist immer schnell geneigt, sich in Auseinandersetzungen zwischen Rußland und einer der seit 1991 unabhängigen Republiken auf die Seite des Kleineren, des Schwächeren zu stellen. Man muß sich nicht unbedingt in Gänze derart harschen Äußerungen anschließen, daß die Rekrutierung und der Einsatz terroristischer Gruppen seit 1992 integraler Bestandteil der russischen Politik im nahen Ausland sind. Was aber bleibt, ist, daß Moskau (oder zumindest Teile seiner politischen Elite) stets die Tendenz zeigte und zeigt, "kontrollierbare Instabilitäten" zu provozieren und zu diesem Zweck Gruppen unterstützte, von denen es sich die Schaffung genau solcher Instabilitäten versprach. Natürlich ist Rußland bestrebt, seinen Einfluß in den neuen unabhängigen Republiken an seinen Grenzen zu bewahren, seine Militärpräsenz auch aus eigenem Sicherheitsdenken zu rechtfertigen und sich ihm widersetzende politische Führungen gegebenenfalls auch zu schwä-chen. Und gerade der georgische Präsident ist einer der GUS-Staatschefs, die gegenüber Rußland stets eine klare und, was die Militärpräsenz betrifft, scharf ablehnende Sprache gesprochen haben. Unkontrollierbar allerdings darf die Lage nicht werden, schließlich will der Kreml als Vermittler auftreten, ja, braucht diese Vermittlerrolle sogar, um Konzessionen legitimer Führungen zu erzwingen. Abchasien ist dafür nur ein Beispiel: die unter Waffen stehende sezessionistische abchasische Bewegung hat sich mit Unterstützung Moskaus institutionalisiert - wenn auch die abchasische Regierung offiziell von niemandem anerkannt wird. Seine Rolle als Mittler in diesem Konflikt spielt der Kreml allerdings noch sehr schlecht.

Wie also kann es weitergehen? Das georgische Parlament hat am 11. Oktober beschlossen, daß der Verbleib der Friedenstruppen der GUS, sprich das russische Militär, in Georgien nicht mehr zweckmäßig sei. Man will, daß diese Truppen unverzüglich aus Georgien abziehen. Begründet wird diese Forderung damit, daß die Friedenstruppen nicht tatsächlich die Bevölkerung schützen, wie es ihrem Mandat entspricht, sondern Grenzschutzfunktionen (dabei allerdings einer unrechtmäßigen Grenze zwischen Abchasien und Restgeorgien) ausüben. Das georgische Parlament will stattdessen, daß internationale Friedenstruppen stationiert, mehr westliche Militärbeobachter eingeladen und diese mit mehr Rechten ausgestattet werden. Weiter aber, so der Beschluß des Parlaments, wolle man an einer friedlichen Lösung arbeiten, und forderte den Präsidenten auf, seine eigenen Bemühungen in den Friedensgesprächen zu intensivieren. Mit dem Verlust Abchasiens werde man sich niemals abfinden, sei jedoch bereit, intensive Konsultationen mit den russischen legislativen Strukturen zu führen, um weitere Spannungen zwischen beiden Ländern und innerhalb Georgiens zu vermeiden. So also die Erklärung vom 11. Oktober. Das war wenig mehr als lautes Rufen im Wald. Zwar weilte der mittlerweile zurückgetretene georgische Parlamentsvorsitzende Surab Schwania kurz darauf zu Gesprächen in Moskau, wurde darüber gesprochen, eine gemeinsame Kommission beider Parlamente zu bilden, um den zwischenparlamentarischen Dialog zu intensivieren, wurde darüber spekuliert, daß eine Kommission des russischen Sicherheitsrates nach Tbilissi zu Gesprächen entsandt werden sollte. Nach dem Wiederaufflackern der Kampfhandlungen jedoch betonte Schwania, daß damit die Hoffnung auf eine Regelung der russisch-georgischen Beziehungen völlig zerstört worden sei. Dies geschah alles noch vor dem Ausbruch der jüngsten politischen Krise in Georgien.

Warum passiert dies alles gerade jetzt, wo die Weltöffentlichkeit ihr Augenmerk auf Afghanistan und die zentralasiatische Region gelenkt hat? Und was würde tatsächlich geschehen, wenn die 2000 Mann starke Friedenstruppe der GUS abziehen würde. Es ist angesichts der unermeßlichen Not und auch der Verbitterung der 300000 georgischen Flüchtlinge aus Abchasien nicht ausgeschlossen, daß diese ihre Angelegenheiten nach neun langen Jahren einfach selbst in die Hand nehmen und unter Führung zweifellos existierender Partisanengruppen gegen Abchasien ziehen. Damit hätte Rußland natürlich wieder einen Hebel in der Hand, um Tbilissi, das das eigene Territorium "nicht kontrollieren kann", zu diskreditieren. In der internationalen Gemeinschaft würden abchasische Zivilisten, die aus ihrer Heimat vertrieben würden, das Meinungsbild sicherlich gegen Georgien wenden.

Und mehr noch: Abchasien hat erneut seinen Wunsch ausgedrückt, den Status eines assoziierten Mitgliedes der Russischen Föderation zu erhalten. Keine neue Idee übrigens. Erstmals wurde sie 1999 vorgebracht, kurz nach dem Referendum über die Unabhängigkeit Abchasiens. Wie legal dieses Referendum war, ist eine andere Frage, denn die aus Abchasien geflohene georgische Bevölkerungsmehrheit wurde dabei jedenfalls nicht nach ihrer Meinung gefragt. Darüber, was der Status eines assoziierten Mitgliedes der Russischen Föderation bedeuten könnte, hat die politische Führung Abchasiens konkrete Vorstellungen: Wahrung der Unabhängigkeit Abchasiens und Erhalt des Status eines Subjekts des internationalen Rechts, gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik mit Rußland, eine gemeinsame Währung mit dem Nachbarn und Schaffung einer Zollunion, gemeinsamer Schutz der Grenzen und die Entwicklung einer gemeinsam abgestimmten Wirtschaftspolitik. Die Diskussion um einen solchen Status hat es allerdings auch schon einmal mit Tbilissi gegeben. Es war 1994 sozusagen die Maximalforderung Abchasiens, die für Georgien völlig unannehmbar war. Tbilissi bot lediglich weitestgehend vorstellbare Autonomie an. Auch die nun wieder von Tbilissi ins Spiel gebrachte "asymmetrische Föderation" als Staatsstruktur Georgiens, in der Abchasien Sonderrechte zugestanden werden, wurde Ende Oktober von der abchasischen Führung erneut zurückgewiesen. "Autonomie innerhalb Georgiens ist unannehmbar und in keiner Weise akzeptabel, da dies der Verfassung Abchasiens, in der die Republik Abchasien sich zum unabhängigen Staat erklärt hat, und dem Willen der Bevölkerung zuwiderläuft", so verlautet aus Suchumi.

Ist also Abchasien fast schon ein Teil Rußlands? Die offene Grenze zwischen Abchasien und Rußland gibt es jedenfalls schon. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Szenario der "Angliederung" nicht allein in Suchumi entwickelt worden sein kann. Denn ein Verfahren zur Aufnahme neuer Subjekte in die Russische Föderation ist in der russischen Verfassung schlicht nicht vorgesehen. Doch was heißt dies schon, da bereits im Sommer in dritter Lesung ein Gesetzentwurf die russische Duma passierte, der genau ein solches Verfahren und dessen Implementierung beschreibt. Ist das nun eine rein zufällige Vorzeitigkeit? Aber nur wenig in der Politik ist von Zufälligkeiten getragen.

Und mehr noch: Nach der illegalen Aktion von Kräften des Ministeriums für Staatssicherheit gegen den privaten Fernsehsender Rustawi-2, bei dem vermeintlich das Finanzgebahren des Senders untersucht werden sollte, ist in Georgien eine politische Krise ausgebrochen, deren Ende noch nicht absehbar ist. Aufgrund der massiven Straßenproteste wurde nach dem Rücktritt zweier Minister und des Parlamentsvorsitzenden zunächst einmal die gesamte Regierung von Präsident Schewardnadse entlassen. Noch legt sich der aufgewirbelte Staub nur langsam und es zeichnet sich ein Szenario ab, das irgendwie vorhersehbar war. Denn die Einführung des Amtes des Ministerpräsidenten und die Bildung eines Ministerkabinetts ist erneut in der Diskussion, nachdem das Parlament die Verfassungsänderungen und die damit einhergehende Neugliederung des Staates noch vor der Sommerpause abgelehnt hatte. Wenig wahrscheinlich, daß Eduard Schewardnadse in Zeiten der Krise mit seinem Vorschlag nicht durchkommen wird. Surab Schwania ist vorausschauend von seinem Posten als Parlamentsvorsitzender zurückgetreten, so scheint es, wenn er diesen Schritt auch öffentlich damit begründet hatte, die Entlassung des Ministers für Staatssicherheit Wachtang Kutateladse und von Innenminister Kascha Targamadse erzwingen zu wollen. Noch wird das Verfassungsszenario lediglich diskutiert, wie auch die in die Öffentlichkeit getragenen Vorschläge, der angeschlagene georgische Präsident müsse nun zwangsläufig Vollmachten abgeben und solle nur noch repräsentative Aufgaben wahrnehmen.

Was nun Abchasien betrifft, hat Schewardnadse den am 4. November mit sowjetisch anmutenden 99 Prozent der Stimmen zum Oberhaupt der Autonomen Teilrepublik Adscharien gewählten Aslan Abaschidse zu seinem Persönlichen Beauftragten für die Verhandlungen mit Abchasien ernannt. Ob dies nun ein kluger Schachzug des bedrängten Schewardnadse ist, muß sich erst erweisen. Denn der “eigenwillig” regierende Abaschidse genießt nicht unbedingt hohes Ansehen in ganz Georgien. Und fraglich ist auch, ob er eine direktere Sprache mit der abchasischen Führung finden wird. Georgien wird einen schweren Stand haben, seine territoriale Integrität, die Moskau ihm verbal immer wieder zugesteht, zu bewahren. Nicht von ungefähr mehren sich die Stimmen, die den Westen eindringlich davor warnen, seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Kampf gegen den Terror zu verlagern und den Kaukasus mit seinen überaus komplizierten Problemen allein zu lassen.
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In Swerdlowsk Gesetze per Dekret des Gouverneurs angepaßt


Der Gouverneur des russischen Gebiets Swerdlowsk Eduard Rossel unterzeichnete am 12. Oktober ein Dekret, mit dem die Gesetze des Gebiets mit denen der Russischen Föderation in Übereinstimmung gebracht wurden. Mit dem Erlaß wollte Rossel die drohende Auflösung des regionalen Parlaments durch den Präsidenten verhindern. Pjotr Latyschew, der Bevollmächtigte Vertreter des Präsidenten im Föderationsdistrikt Ural, hatte Anfang Oktober angekündigt, daß er Präsident Putin auffordern würde, das Parlament des Gebiets aufzulösen, wenn dieses die regionalen Gesetze nicht umgehend mit den Föderationsgesetzen in Übereinstimmung bringen würde. Die Duma des Gebiets zeigte sich allerdings aufgrund heftiger Auseinandersetzungen um ihren Vorsitzenden als nicht handlungsfähig, um den vom Russischen Verfassungsgericht gesetzten Termin, den 12. Oktober, für die Anpassung der Gesetze einhalten zu können.
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