Wostok Newsletter 08/2000

Das Leben in den Föderalen Distrikten - Wer ist denn nun stärker?
Geschichte einer Regeneration - der Rechnungshof Rußlands
Bildungsreform in Rußland
Wasser zu Weltmarktpreisen
Rußland - Ins neue Millenium mit einer neuen Armee?
Rußland und Belarus auf dem Weg zum Unionsstaat
Die Illusion der Pressefreiheit in Rußland
Interview mit Karen Tschschmaritian, Minister für Industrie, Handel und Tourismus Armeniens
Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet
Umfragen in Belarus
Weitere Meldungen, Kurzmeldungen

Auszüge:

Geschichte einer Regeneration - der Rechnungshof Rußlands
von
Alexej Melnikow Abgeordneter der Staatsduma der Russischen Föderation, Mitglied des Ausschusses für Haushalt und Steuern


Heute wird über den Rechnungshof - ein Kontrollorgan, das in den vergangenen Jahren kaum sichtbar war, doch seit einiger Zeit sehr aktiv vorgeht - intensiv diskutiert. Von vielen wird befürchtet, daß er sich zu einem Monstrum entwickeln könnte, und daß er alles, was für ihn von Belang ist, unter seinen Einfluß bringt. Doch sind solche Ängste begründet? Was ist der Rechnungshof überhaupt für eine Einrichtung?

Nach Artikel 101 der russischen Verfassung "bilden der Föderationsrat und die Staatsduma den Rechnungshof, der die Durchführung des föderalen Haushalts kontrolliert. Zusammensetzung und Tätigkeit des Rechnungshofes werden durch föderales Gesetz geregelt." Das in der Verfassung genannte föderale Gesetz "Über den Rechnungshof der Russischen Föderation" besteht aus 34 Paragraphen und trat am 11. Januar 1995 in Kraft.

Vergleicht man das Gesetz mit dem Wortlaut der Verfassung, stößt man auf drei Bestimmungen, die zu der in der Verfassung nicht vorgesehenen Unabhängigkeit des Rechnungshofes im System der Staatsmacht geführt haben.

Das Gesetz enthält einen Widerspruch zur Verfassung, der bis heute nicht ausgeräumt ist. Ungeachtet der Tatsache, daß der Rechnungshof "zur Kontrolle über die Durchführung des föderalen Haushalts" gebildet wird, erweitert Paragraph 2 dieses Gesetzes seine Befugnisse und Funktionen wesentlich. Es handelt sich insbesondere um "die Bestimmung der Effizienz und Zweckmäßigkeit des Verbrauchs der staatlichen Mittel und der Nutzung des föderalen Eigentums."

Eine weitere Schlüsselbestimmung im Rechnungshofgesetz widerspricht der Verfassung zwar nicht nach den Buchstaben, aber nach dem Geist. Nach der Verfassung ist der Rechnungshof sinngemäß ein Organ der Föderalen Versammlung, die aus Duma und Föderationsrat gebildet wird. Der Rechnungshof ist im Sinne der Verfassung ein parlamentarisches Kontrollinstrument über die Durchführung des föderalen Haushalts durch die Regierung. Paragraph 10 des Gesetzes berechtigte diesen allerdings, "außerplanmäßige Kontrollmaßnahmen" zu ergreifen, die keineswegs von der Föderalversammlung sanktioniert sind. Damit hat sich der Rechnungshof faktisch in ein selbständiges politisches Subjekt verwandelt. Die fünfjährige Tätigkeit des Rechnungshofes belegt, daß er sein Recht, unsanktionierte Kontrollmaßnahmen zu ergreifen, sehr oft wahrnimmt.

Zudem wurde eine effiziente Kontrolle der Föderalversammlung über den Rechnungshof durch Paragraph 29 des Gesetzes lahmgelegt. Um den Vorsitzenden, den stellvertretenden Vorsitzenden oder den Auditor des Rechnungshofes zu entlassen, muß das entsprechende Haus der Föderalversammlung (Staatsduma oder Föderationsrat) mit Zweidrittelmehrheit entscheiden. Dies ist in der Duma praktisch unmöglich. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß die größte oder auch die beiden größten Fraktionen noch nie die Hälfte der Parlamentssitze kontrollierten. Laut den Paragraphen 5 und 6 des Rechnungshofgesetzes werden übrigens der Auditor, der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des Rechnungshofes mit Zustimmung von mindestens fünfzig Prozent der Abgeordneten in beiden Kammern des Parlaments ernannt.

Die genannten Besonderheiten sorgten dafür, daß der Rechnungshof zwei politische Möglichkeiten durchsetzte.

Erstens konnte er seine eigenen Befugnisse ausbauen. Alle Versuche, größere Befugnisse zu erhalten, wurden dabei stets von der Idee begleitet, daß Handlungen im Rahmen dieser erweiterten Befugnisse nicht vom Parlament kontrolliert werden dürfen. Ein prägnanter Beleg hierfür ist das Streben des Rechnungshofes, das Recht zu erlangen, "Haushaltsmittel akzeptfrei von den Konten abzuschreiben". Seit Jahren wirkt der Rechnungshof bereits auf die Legitimierung dieser Befugnis hin, und dabei handelt es sich nicht lediglich um die Abschreibung staatlicher Unternehmen. Die Beamten des Rechnungshofes verwiesen auch auf "Unternehmen, Institutionen, Kommerzbanken und andere Organisationen". Ein Großteil der Abgeordneten der zweiten und dritten Legislaturperiode sah und sieht in der Umsetzung dieser Vorschläge jedoch die Gefahr ungeheurer Bestechlichkeit im Rechnungshof. Daher hatten diese Vorschläge bislang keine Chance, in der Duma angenommen zu werden.

Zweitens war der Rechnungshof, der keinen eindeutigen und gesetzlich definierten Status als "Augen und Ohren" des Parlaments hat, potentiell bereit, gegen das Prinzip der Machtbalance zu verstoßen, und das Gesetz schuf die Voraussetzungen dafür. Erforderlich war im Prinzip nur eine günstige politische Konstellation, die mit dem Machtantritt Wladimir Putins auch entstanden ist. Ein Driften des Rechnungshofes Richtung Exekutive ist seit dem Frühjahr 2000 zu beobachten. Allerdings muß man anmerken, daß diese Erscheinung in einer langen Reihe von Entwicklungen steht, die sich als "Auflösung der demokratischen Institutionen, die im Zeitalter der demokratischen Revolution Anfang der 90er Jahre in der traditionellen russischen Staatlichkeit entstanden sind", beschreiben lassen.

Jedoch ist derzeit noch nicht feststellbar, ob dieses Driften des Rechnungshofes Richtung Exekutive irgendwelche konkreten Ergebnisse gebracht hat. Die Absichten wurden jedoch eindeutig demonstriert. Und sie ließen sich in drei Bereichen beobachten: gemeinsame Handlungen mit der Generalstaatsanwaltschaft, mit den Regierungsämtern und mit den Präsidialstrukturen.

Zusammenarbeit mit der Generalstaatsanwaltschaft
Der Vorsitzende des Rechnungshofes Sergej Stepaschin verwies bereits im Mai 2000 nach einem Gespräch mit Präsident Putin auf die Notwendigkeit, eine Übereinkunft zwischen dem Rechnungshof und den Sicherheitsbehörden, insbesondere mit der Generalstaatsanwaltschaft zu erzielen, um in besonders wichtigen und bedeutsamen Fragen, die mit den Ausgaben der Haushaltsmittel zusammenhängen, zusammenzuarbeiten. Diese Erklärung wurde ohne vorherige Beratung des Rechnungshofes mit der Staatsduma abgegeben. Die Umsetzung der Vorschläge des Rechnungshofes setzen jedoch Änderungen am Rechnungshofgesetz und an der Strafprozeßordnung voraus. Die Duma beeilt sich derzeit nicht, solche Änderungen vorzunehmen.

Zusammenarbeit mit den Regierungsämtern
Stepaschin und der Chef der Föderalen Steuerpolizei Saltaganow unterzeichneten im Sommer eine Übereinkunft über die Zusammenarbeit bei der Kontrolle der pünktlichen Durchführung des Haushalts und bei der Unterbindung von Steuervergehen. Demnächst sollen gemeinsame Arbeitsgruppen zur Prüfung einiger Wirtschaftssubjekte gebildet werden. Zugleich wurde auch auf die Notwendigkeit verwiesen, ähnliche Übereinkünfte mit dem Innenministerium und dem Föderalen Sicherheitsdienst zu unterzeichnen. Die Übereinkunft mit dem Innenministerium wurde dann im Juli 2000 auch unterzeichnet. Rechnungshof und Innenministerium bereiten sich nun gemeinsam auf die Überprüfung mehrerer Unternehmen vor. "Es gibt ein weites Feld der Zusammenarbeit zwischen Rechnungshof und Innenministerium, wenn es um den Einsatz der Haushaltsmittel, um Investitionstätigkeit und um Kredite geht", so Stepaschin.

Zusammenarbeit mit den Präsidialstrukturen
Stepaschin verwies besonders auf die Notwendigkeit, die Arbeit der Kontrollorgane des Präsidenten und des Rechnungshofes eng zu koordinieren. "Wir werden zusammen mit dem Präsidenten arbeiten", erklärte im Mai 2000 der Chef des Kontrollorgans des Parlaments. Im Juli definierte Stepaschin die Prioritäten der Kontrollarbeit des Rechnungshofes genauer und berief sich dabei unmittelbar auf Putin. Er nannte die Unternehmen Gasprom, Roswooruschenije und Promexport, die "beim Präsidenten besondere Besorgnis" auslösen.

Wie auch immer. Die Entwicklung im nächsten Jahr wird zeigen, ob sich der Rechnungshof weiterhin der Exekutive nähert oder ob diese Annäherung wenigstens in Teilen (auch durch das Parlament) aufgehalten werden kann. Sollte sich die liberale politische Opposition gegen Putin im nächsten Jahr festigen - dies hängt direkt vom Zustand der russischen Wirtschaft ab -, dann wird sich dies auch auf die Gesetzgebung auswirken, die die Handlungen des Rechnungshofes vorgibt. Das Ziel ist, die Arbeit des Rechnungshofes wieder in Einklang mit der Verfassung zu bringen.
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Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet


Die fünf Mitglieder der Zollunion der GUS haben zum Ausbau ihrer Zusammenarbeit eine Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet. Das Dokument wurde am 10. Oktober in der kasachischen Hauptstadt Astana von den Präsidenten Rußlands, Kasachstans, Kyrgysstans, Tadschikistans und von Belarus unterzeichnet. Im Wortlaut des Vertrages heißt es, daß die Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft eine internationale Organisation ist und die Vollmachten besitzt, die ihr von den vertragschließenden Seiten freiwillig delegiert werden. Im Vertag wird unterstrichen, daß die Staaten souveräne und gleichberechtigte Subjekte des Völkerrechts bleiben. Der Vertrag wird ohne Fristbeschränkung abgeschlossen und tritt nach der Ratifizierung der Teilnehmerstaaten in Kraft. Mit diesem Vertrag wurde nun der erste Schritt zur Schaffung eines effektiveren Systems der Zusammenarbeit zwischen den fünf Ländern im Wirtschaftsbereich unternommen, wobei man sich bei den Prinzipien an denen der früheren Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) orientierte. Alle für das Funktionieren der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft notwendigen Dokumente sollen bis zum 1. April nächsten Jahres vorbereitet werden.

In der neuen Gemeinschaft sollten die Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik besser abgestimmt werden, sagte der russische Präsident Putin nach der Unterzeichnung. Die fünf Staaten wollen zudem Schritte zur Festigung ihrer äußeren Grenzen unternehmen. Die Staatschefs haben den Regierungen ihrer Länder entsprechende Anweisungen erteilt.
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Umfragen in Belarus


Im nächsten Jahr finden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt. Das Institut für Sozialforschung BelaPAN fragte Anfang Oktober 600 belarussische Bürger "Wen würden Sie wählen, wenn heute Präsidentschaftswahlen wären?" Fünfzehn Prozent würden danach Alexander Lukaschenko wählen, das waren vier Prozent mehr als im Februar. Die führenden Vertreter der demokratischen Opposition Stanislaw Bogdankewitsch und Michail Tschigir würden zwei Prozent der Stimmen, Stanislaw Schuschkewitsch, Nikolai Statkewitsch, Anatoli Lebedko und Waldimir Jermoschin ein Prozent erhalten. 28 Prozent der Befragten sehen keine würdige Person für das höchste Amt im Staate, fünf Prozent würden nicht zur Wahl gehen, und sechs Prozent gegen alle stimmen.

In einer anderen Umfrage wurden die Belarussen befragt, was sie von Lukaschenkos Versprechen halten, die Durchschnittsverdienste bis Oktober 2001 auf hundert Dollar im Monat zu erhöhen. 34 Prozent wünschten sich, daß dies wahr wäre. 32 Prozent meinten, daß dies nur eine weitere eitle Idee des Präsidenten vor den Wahlen im nächsten Jahr sei. Zwanzig Prozent zeigten sich überzeugt, daß dies aus wirtschaftlichen Gründen einfach unmöglich sei. Nur drei Prozent der Befragten glaubten, daß das Versprechen des Präsidenten einen realen wirtschaftlichen Hintergrund hat. Elf Prozent gaben auf diese Frage keine konkrete Antwort.

Bei einer Umfrage des soziologischen Dienstes "Mirror" von BelaPAN zum Freiheitsmarsch gaben 24 Prozent an, daß die Demonstration nützlich war. Fünfzehn Prozent bezeichneten sie als harmlos. Während fünf Prozent sagten, daß solche Demonstrationen verboten werden müßten. Immerhin sechzehn Prozent hatten nie davon gehört.
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