Auszüge:
Parteiengesetz in Rußland - zeichnen sich Veränderungen ab?
von
Grigori Melamedow,
Politologe, Moskau
In den letzten Jahren waren praktisch alle russischen Politiker und Politologen einhellig der Auffassung, daß das Parteiensystem in einer Krise sei und einer Reform bedurfte. Und es wurde nach einem neuen Gesetz gerufen. Der Politologe Georgi Satarow, einst Berater von Präsident Boris Jelzin und heute Direktor der Stiftung "Informatik für Demokratie", faßte das Wesen dieser Krise am treffendsten zusammen. In seinem Beitrag "Parteiengesetz: einige Überlegungen" führte er sieben Punkte für die Unabdingbarkeit eines neuen Gesetzes an. Satarow argumentierte: "Es gibt zu viele Parteien, und dem Wähler fällt es schwer, sich in der Parteienlandschaft zurechtzufinden. Die Parteien sind nur mit sich selbst und mit dem Kampf um die Macht beschäftigt. Dem Wähler stehen sie dabei ganz gleichgültig gegenüber. Ausgenommen ist nur die kurze Zeit der Wahlen, wenn sie deren Stimmen brauchen. In den Parteien sammeln sich eine Menge zufälliger Menschen. Oft kaufen diese Plätze auf den Parteilisten oder sie werden aufgrund zweifelhafter Verdienste von deren Bossen auf die Listen gesetzt. Im Laufe der letzten zehn Jahre hat keine einzige Partei der Gesellschaft ein attraktives Programm vorgelegt - und so fließen die Parteien in einer monotonen, grauen, jeglichen intellektuellen Glanz entbehrenden Masse zusammen. Zudem übernehmen die Parteien praktisch keine Verantwortung - weder für die Aktivitäten ihrer Vorsitzenden noch für ihre wenigen, meist unverständlichen Initiativen. Was nun ihre finanzielle Tätigkeit betrifft, so sind diese für die Öffentlichkeit nicht durchschaubar, was zur Bestechlichkeit im Parlament führt." Schließlich, so Satarow, sind die russischen Parteien im Grunde genommen politische Klubs, die aus einem Vorsitzenden und seinem ständig wechselnden Gefolge bestehen. Gerade unter diese Einschätzung würden wohl die meisten Experten ihre Unterschrift setzen.
Von seinen Punkten wurde in den Medien besonders oft der erste herausgegriffen und diskutiert, nämlich die übermäßig große Zahl von Parteien und gesellschaftlichen Bewegungen. Im Jahr 2000 waren in Rußland mehr als 180 föderale Parteien und Bewegungen registriert, die das Recht hatten, sich an Wahlen auf Föderationsebene zu beteiligen. Rechnet man regionale und überregionale, das heißt in mehreren Föderationssubjekten registrierte, aber nicht föderale Parteien und Bewegungen hinzu, so kam man auf eine in der Tat gigantische Zahl. Seit 1993 haben an föderalen Wahlen stets zwischen dreißig und vierzig Parteien, Wahlbündnisse und Bewegungen teilgenommen, von denen maximal sieben bis acht die Fünf-Prozent-Hürde überwinden konnten. Die Absurdität dieser Situation war damit augenfällig.
Initiator des neuen Gesetzes
Es gab also durchaus objektive Gründe für ein neues Parteiengesetz. In erster Linie aber war dieses Gesetz auf die Interessen der Präsidialadministration zurückzuführen. Nach den Parlamentswahlen im Jahre 1999 gab es zum ersten Mal in der Duma eine dem Präsidenten und der Regierung loyal gegenüberstehende Mehrheit. Diese gründete vor allem auf der Bewegung "Jedinstwo" ("Einheit"), die erst kurz vor den Wahlen mit massiver Unterstützung der Präsidialadministration gegründet worden war und als zweitstärkste Fraktion in die Duma einzog. Später vereinigte sich "Jedinstwo" mit dem Bündnis "Vaterland - Ganz Rußland". Damit stellen die Kommunisten und ihre Verbündeten zum ersten Mal nicht mehr die Mehrheit in der Duma. Die Liberaldemokratische Partei, ungeachtet der schlimmen Provokationen ihres Vorsitzenden Wladimir Schirinowski und seiner vermeintlichen Unberechenbarkeit, unterstützt im Prinzip stets die Position des Kreml.
Schließlich sind die Rechten in der Duma durch den "Bund der rechten Kräfte" (SPS) und JABLoko vertreten, die jedoch aufgrund ihrer kleinen Zahl das Kräfteverhältnis nicht wesentlich beeinflussen können. Angesichts dieser Konstellation war wohl zu erwarten, daß die Putin-Administration den Wunsch hatte, dieses Kräfteverhältnis zu bewahren beziehungsweise es in ihrem Sinne noch fester zu zurren.
Die Stimmung in der Gesellschaft unterstützte diese Pläne. Nachdem es dem Kreml gelungen war, buchstäblich in kürzester Zeit die "Einheit" aus dem Nichts zu schaffen und ihr durch beispiellose administrative, finanzielle und mediale Unterstützung letztlich zum Sieg zu verhelfen, machte sich allgemein das Gefühl breit, daß die Verwaltung des Präsidenten den Prozeß des Parteienkampfes völlig kontrollieren kann. Dies wurde in der folgenden Zeit dann auch immer wieder bei den Gouverneurswahlen bestätigt: Die Unterstützung des Kreml wurde zum entscheidenden Faktor. Damit aber konnte die Zentrale die Machtvertikale mit dem recht einfachen Argument, "Ordnung schaffen zu wollen", weiter stärken, was von der Bevölkerung weitgehend unterstützt wird.
Welche Vorgaben macht das Parteiengesetz
Dem Putin-Entwurf des Gesetzes "Über die politischen Parteien" waren eine Reihe von Gerüchten und gezielten "Informationslöchern" vorausgegangen. Sinngemäß vermittelten diese, daß das politische System mit dem Gesetz in ein Zwei- oder Dreiparteiensystem umgewandelt werden sollte, wobei alle Parteien durch den Kreml "steuerbar" sein sollten.
Dann endlich wurde der Entwurf zur Erörterung in die Staatsduma eingebracht. Einige Fraktionen und Abgeordnetengruppen versuchten, Gegenentwürfe in die Diskussion einzubringen, die aber mit Stimmenmehrheit abgelehnt wurden. Das Parteiengesetz legt vor allem fest, daß an Wahlen nur noch Organisationen mit Parteienstatus teilnehmen dürfen. Dies betrifft allerdings nicht die Aufstellung von Direktkandidaten. Denn in der Verfassung ist das Recht von Bürgern und gesellschaftlichen Organisationen festgeschrieben, Kandidaten in den Direktwahlkreisen aufstellen zu können. Weiter stellt das Gesetz hohe Anforderungen an die Mitgliederzahl der Parteien: eine Partei muß nun mindestens 10000 Mitglieder haben und mit Gliederungen in mehr als der Hälfte der Föderationssubjekte vertreten sein. Mindestens in der Hälfte der Föderationssubjekte muß sie mehr als hundert Mitglieder und in den anderen Regionen mindestens fünfzig haben. Staatliche Finanzierung erhalten die Parteien, die bei Wahlen mindestens drei Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten - pro Stimme erhalten sie dann mindestens 0,005 des festgesetzten Mindestlohnes. Freilich hat eine Partei auch das Recht, auf staatliche Zuschüsse zu verzichten. Von besonderer Wichtigkeit ist zudem, daß vom Gesetz nur die Tätigkeit gesamtrussischer Parteien genehmigt wird: regionale und zwischenregionale Parteien soll es künftig nicht mehr geben. Der Gesetzentwurf verpflichtet eine Partei, ein Programm zu haben sowie ihren Finanzbericht zu veröffentlichen. Als Übergangsperiode zur Umwandlung der existierenden Parteien und Bewegungen in Parteien nach den Vorgaben des neuen Gesetzes wurde eine Frist von zwei Jahren festgelegt. Für diese Zeit haben die Parteien auch weiterhin das Recht auf Teilnahme an Wahlen.
Wird das Gesetz etwas verändern?
Ein halbes Jahr brauchte die Duma, um den von Wladimir Putin eingebrachten Gesetzentwurf zu verabschieden. Für das Gesetz stimmten 238 Abgeordnete, dagegen 164. Am 11. Juli 2001 trat es in Kraft. Die Meinungen der Politologen gingen auseinander. Die einen meinten, daß neue Gesetz stelle so hohe Anforderungen, daß nur die zwei oder drei größten Parteien diese erfüllen könnten. Sogar die Zukunft des SPS, der LDPR und von JABLoko schien unsicher. Den nicht im Parlament vertretenen Parteien wurde überhaupt keine Chance eingeräumt. Andere Beobachter wiederum argumentierten, daß das Gesetz praktisch gar nichts ändern werde. Manche Polittechnokraten haben schnell errechnet, daß der Aufbau einer neuen Partei entsprechend der Gesetzesvorgaben etwa 250000 Dollar kosten würde und darauf verwiesen, daß sich ohne Zweifel Personen finden würden, die die Gründung "schlüsselfertiger" Parteien zu ihrem Geschäft machen würden - so wie sie bisher vor den Wahlen Gewinne aus dem bezahlten Stimmenfang schlagen konnten. Zwischen diesen Extremen war die Stimme des Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission Alexander Weschnjakow zu vernehmen. Seiner Ansicht nach würde sich die Zahl der Parteien zwischen fünfzehn und zwanzig einpendeln.
Heftige Streitigkeiten entbrannten auch um die staatliche Finanzierung der Parteien. Mehrere Politologen äußerten die Befürchtung, daß sich die Parteien vollständig in Abhängigkeit von der Präsidialadministration begeben werden.
Ungeachtet all der Auseinandersetzungen wertete die Mehrheit der Politologen das Gesetz als Schritt nach vorn. Reiche Früchte seien zu erwarten, wenn das Gesetz noch von weiteren Maßnahmen flankiert würde. "Die Verkündung des Parteiengesetzes wird auf die Parteien und auf das Parteiensystem insgesamt keinen Einfluß ausüben. Bedeutet dies, daß es nicht angenommen werden soll? Keinesfalls!" schrieb Grigori Satarow. "Dieser Gesetzentwurf ist nicht besser und nicht schlechter als die anderen. Man muß einfach begreifen, daß ein Gesetz allein nicht imstande ist, etwas zu verändern. Reale Bemühungen um die Schaffung eines effektiven Parteiensystems - und ein solches brauchen wir ohne Frage - müssen alle Wechselbeziehungen berücksichtigen: die von Parlament und Exekutive, von Parteien und Parlament, von Bürgern und Parteien. Kurz gesagt, heute ist nicht nur ein neues Parteiengesetz notwendig, sondern es bedarf koordinierter Änderungen an der Verfassung, dem Wahlsystem, der politischen Kultur und den Traditionen."
Zur ersten Probe für die Lebenskraft des neuen Gesetzes wurde die Gründung der "Partei der Wiedergeburt Rußlands" (PWR) mit dem Dumavorsitzenden Gennadi Selesnjow an der Spitze. Der Kommunist Selesnjow wurde vor einigen Monaten nach innerparteilichen Auseinandersetzungen aus der Kommunistischen Partei (KPdRF) ausgeschlossen. Er machte sich sofort an die Gründung einer gemäßigt linken Partei, die ein Gegengewicht zur radikaleren KPdRF sein soll. In seinen Bemühungen wurde Selesnjow - wenn auch nicht offiziell - vom Kreml unterstützt. Im September 2002 trat die PWR zu ihrem Gründungskongreß zusammen. Die neue Partei hat Gliederungen in 71 Föderationssubjekten, und ihre Vorsitzenden rechnen damit, daß sie im Dezember im Justizministerium registriert sein wird.
Freilich ist schon heute klar, daß sich die Hoffnungen oder Befürchtungen - je nachdem -, daß sich die Zahl von Parteien mit dem neuen Gesetz massiv reduzieren werde, nicht bewahrheiten werden. Von einem Zwei- oder Dreiparteiensystem ist Rußland weit entfernt. Nach Angaben der Zentralen Wahlkommission waren Mitte September 2002 schon 27 Parteien nach den neuen gesetzlichen Vorgaben registriert. Neunzehn von ihnen sind bereits existierende Parteien und teils in der Staatsduma vertreten, wie die KPdRF, der SPS, JABLoko und die LDPR, oder haben sich umgewandelt - wie die "Einheit", die sich mit "Vaterland" zur Partei "Einheitliches Rußland" zusammengeschlossen hat. Die übrigen acht registrierten Parteien wurden gerade erst per Gründungskongressen gebildet. Die bedeutendste von ihnen ist die Sozialdemokratische Partei, deren Vorsitzender Michail Gorbatschow ist. Niemand zweifelt daran, daß auch die Selesnjow-Partei die Liste in nächster Zeit ergänzen wird.
Lösung für Kaliningrad zwischen Rußland und EU
(pb)
Der EU-Rußland-Gipfel am 11. November 2002 fand nicht wie geplant in Kopenhagen statt, sondern wurde aufgrund der Weigerung des russischen Präsidenten nach Dänemark zu kommen, nach Brüssel verlegt. In Kopenhagen hatte zuvor der Jahresweltkongreß der Tschetschenen getagt, und Rußland hatte die Auslieferung des tschetschenischen Vizepremiers Achmed Sakajew gefordert, der von der russischen Führung in Verbindung mit der Geiselnahme in Moskau gebracht wird.
In Brüssel wurde eine Übereinkunft über die Regelung der Kaliningrad-Frage erzielt. Mit einer Aufnahme Litauens und Polens in die EU ist die russische Exklave Kaliningrad von EU-Staaten umgeben, für die einheitliche Visaregelungen gelten. Im Vorfeld war aus offiziellen Kreisen Rußlands immer wieder verlautbart worden, daß eine Visaregelung für Rußland nicht akzeptabel sei, da diese das freie Reiserecht seiner Bürger auf seinem Territorium einschränke. Insbesondere der Vorsitzende des Dumaausschusses für Internationale Angelegenheiten und Bevollmächtigter des Präsidenten für Kaliningrad Dmitri Rogosin hatte erklärt, daß Rußland auf einem visafreien Verkehr zwischen dem Mutterland und Kaliningrad bestehen werde und die einzige Konzession, die man zu machen bereit sei, die Schließung der südlichen Grenze ist, um die Wellen illegaler Migration Richtung EU zurückzuhalten.
Entgegen diesen Verlautbarungen wurden nun doch entsprechende Regelungen vereinbart: russische Bürger die zwischen Kaliningrad und dem Mutterland mit dem eigenen Pkw fahren, erhalten Mehrfachtransitdokumente, um das litauische Territorium zu überqueren. Zugreisende erhalten für jede Eisenbahnfahrt ein Einmaltransitdokument, das nach dem Kauf der Eisenbahnfahrkarte ausgestellt wird. Angaben über die Reisenden werden an Litauen übermittelt, das das Recht behält, in dem Falle ein Transitdokument zu verweigern, daß jemand litauische Gesetze verletzt hat oder eine Bedrohung für die Sicherheit des litauischen Staates darstellt.
Die neue Regel gilt ab 1. Juli 2003. Vorgesehen ist, daß die beiden Seiten, nachdem Litauen, das an den Verhandlungen nicht direkt beteiligt war, erwartungsgemäß Ende 2003 dem Schengener Abkommen beitreten wird, eine weitere Übereinkunft unterzeichnen.
In der Übereinkunft wurde das Wort Visa sorgfältig vermieden, obwohl diese Regelung de facto ein Visaregime darstellt. Rußland hat sich damit, so scheint es, den Forderungen der EU gebeugt. So nannte Präsident Putin in seiner Bewertung die Übereinkunft eine "nicht ideale, aber akzeptable" Lösung und kündigte an, daß weitere Gespräche über Kaliningrad folgen werden. (pb)
Wahl in Kalmückien
Kirsan Iljumschinow, Präsident der russischen Teilrepublik Kalmückien, ist für eine zweite siebenjährige Amtszeit wiedergewählt worden, dabei allerdings mit unerwartet schlechtem Ergebnis. Nur 57 Prozent der Wähler gaben ihm in der zweiten Wahlrunde ihre Stimme. Sein Herausforderer Baatir Schondschijew, stellvertretender Direktor der High-Technology-Bank, erhielt 38 Prozent. Die zweite Runde war notwendig geworden, nachdem sich Amtsinhaber Iljumschinow in der ersten Runde nicht mit absoluter Mehrheit gegen seine elf Mitbewerber durchsetzen konnte. Beobachter beklagten den unfairen Wahlkampf. Nicht nur, daß sich Iljumschinow auf die Verwaltungsressource stützen konnte, gab es auch keine ausgewogene Wahlkampfberichterstattung und erhielten nicht alle Kandidaten Sendezeit in den Medien.
Die Zahl der Armen in Rußland sinkt
Im dritten Quartal 2002 lebten 27 Prozent der Bevölkerung oder ungefähr 38,7 Millionen Menschen in der Russischen Föderation in Armut, das heißt ihre Einkommen liegen unterhalb des offiziell festgelegten Existenzminimums, dies gab das Staatliche Statistikkomitee bekannt. Damit ist die Zahl der Armen weiter gesunken. Lag ihre Zahl im ersten Quartal 2001 noch bei 36,6 Prozent waren es im ersten Quartal 2002 nur noch 33,3 Prozent. Die Armut ist allerdings nicht gleichmäßig über die gesamte Föderation und alle Bevölkerungsschichten verteilt. Etwa 28 Prozent der Männer zwischen 31 und 59 Jahren leben in Armut, während es in der Altersgruppe bis zu sechzehn Jahren 46,3 Prozent sind. Im Gebiet Iwanowo leben nach Schätzungen etwa siebzig Prozent der Bevölkerung unterhalb des Existenzminimums, während es im Gebiet Tjumen weniger als sechzehn Prozent sind.
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