Wostok-Newsletter 4/2002

Unblutige Umverteilung in Rußland. Die Auseinandersetung um "Slawneft"
Die Geschichte des Gesetzes über den Zivildienst in Rußland
Ein "schwarzes Loch" - zur Lage der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft
Herbst für die Kommunistische Partei
Pulverfaß Kaukasus
Vorbereitung auf das Referendum in Aserbaidschan
Armenien - ein guter Schüler Rußlands?
Visaregime für belarussische Bürger - Pressemitteilung
Wer steht wo in Kasachstan
Greift Rußland auf alte Methoden zurück?
Über die Tätigkeit der Hizb-ut Tachrir
Präsident bis zum Ableben?

Auszüge:

Wohnungs- und Kommunalwirtschaft - ein schwarzes Loch
von
Alexej Uljanow, Ökonom, Dozent am Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen, Moskau


Nach zehn Jahren wirtschaftlicher Wandlungen in Rußland schenken russische und westliche Ökonomen den Strukturproblemen der einheimischen Wirtschaft mehr und mehr Aufmerksamkeit. Und sogar der Internationale Wäh-rungsfonds, dessen Interessenschwerpunkt lange Zeit allein auf finanzieller Stabilität und Marktliberalisierung lag, spricht heute über die Notwendigkeit von Reformen der natürlichen Monopole, des Bankwesens und des Rentensystems.

Zu den wichtigsten Strukturreformen zählt die Reform der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft. Denjenigen, die wenigstens einmal in Rußland waren, wird sofort aufgefallen sein, wie spezifisch die Stadtlandschaft gestaltet ist. In Rußland findet man anders als im Westen keine Einfamilienhäuser. In Rußland gibt es zudem keine Slums, die in den Ländern der "Dritten Welt" üblich sind und die beispielsweise das Bild einiger Städte selbst in Südspanien prägen. Sieht man von den privaten Holzhäusern auf dem Land und in den Kleinstädten sowie von den Villen der "neuen Russen", die in der Umgebung Moskaus und der anderer Großstädte gebaut werden, einmal ab, kommt man zu folgender Feststellung: mehr als sechzig Prozent der Russen leben in standardisierten Plattenbau- oder Ziegelsteinhäusern mit mehreren Wohnungen. Die für fast alle Städte typischen Mehrfamilienhäuser haben fünf, neun oder sechzehn Stockwerke. In diesen standardisierten Häusern gibt es standardisierte, relativ kleine Wohnungen: Im Durchschnitt verfügt ein russischer Bürger über 22 Quadratmeter Wohnfläche, aber meistens mit allem Komfort, dessen wichtigster Teil - man denke nur an die Kälte in den russischen Wintern! - die Zentralheizung ist. Einige Fachleute behaupten, daß das zentrale Heizsystem nicht nur das billigste, sondern überhaupt das einzige effiziente Wärmeversorgungssystem für Rußland ist.

Der offensichtliche Nachteil dieses Systems, bei dem kommunale Dienstleistungen zentralisiert von den munizipalen Einrichtungen geleistet werden, besteht darin, daß die Munizipalität selbst diese Dienstleistungen "bestellt" und ausführt. Die Konsequenzen springen ins Auge: Mißwirtschaft, die Unmöglichkeit, den genauen Preis der Dienstleistung zu berechnen, und die Verschwendung von Geldern. Eine Reihe von Experimenten, bei denen Auftraggeber und Auftragnehmer kommunaler Dienstleistungen in munizipalen Diensten voneinander getrennt wurden, ist aufgrund der Unzulänglichkeiten des Steuersystems gescheitert. Dies hätte auch die Einführung einer vertraglichen Grundlage und vor allem die Zulassung von Konkurrenz für die kommunalen Dienste bedeutet, was reformorientierte Bürgermeister in einigen Städten zu verwirklichen versuchten.

Vor allem aus diesen Gründen (plus bürokratischen Hindernissen) scheiterte auch die Idee eines Zusammenschlusses der Wohnungseigentümer der Hochhäuser mit den Genossenschaften der Wohneigentümer, der eigentlich ermöglichen sollte, Dienstleistungen entsprechend des Bedarfes zu beantragen und bessere Anbieter auszuwählen. In solchen Genossenschaften sind höchstens drei Prozent der Russen organisiert. Es ist eine neue russische höhere Mittelschicht, die bereit ist, gleichzeitig mit der Bürokratie und allen Nachteilen des Steuersystems zu kämpfen.

Im Jahr 1994 wurde die Privatisierung des Wohnungsfonds eingeleitet. Aber die "privatisierten" Wohnungen, die heute einen Anteil von 45 Prozent am Gesamtbestand haben, unterscheiden sich von den staatlichen nur in dem Punkt, daß man sie tauschen oder verkaufen kann. Es zeichnet sich sogar der Trend ab, daß Bürger ihre Wohnungen wieder "entprivatisieren", da sie Angst vor der neuen Immobiliensteuer haben, die die Regierung ab 2003 oder 2004 einführen will.

So leben die meisten Russen: in munizipalen Häusern, in denen die Hälfte der Bewohner Eigentümer ihrer Wohnungen ist. Und sie bezahlen monatliche Rechnungen für kommunale Leistungen, ohne manchmal zu verstehen, wofür sie das Geld eigentlich ausgeben. Der Betrag auf der Rechnung ändert sich unverständlicherweise auch dann nicht, wenn in einem Haus im Sommer das heiße Wasser abgestellt war - so etwas ist in Rußland gang und gäbe. Gerechtigkeitshalber sei erwähnt, daß in Moskau, St. Petersburg und einigen anderen Städten der Preis jeder kommunalen Leistung bereits auf der Rechnung vermerkt ist. Einigen gelang es sogar durchzusetzen, daß sie nicht für heißes Wasser zahlen mußten, wenn dieses im Sommer abgestellt war.

Um das Bild zu vervollständigen, sollte festgehalten werden, daß die kommunale Wirtschaft in hohem Maße aus den kommunalen Haushalten gefördert wird. Es stimmt: Die Durchschnittsfamilie bezahlt für ihre Dreizimmerwohnung nur etwa zwanzig bis dreißig Euro im Monat. Natürlich ist das nicht viel, aber der Durchschnittslohn liegt auch nur bei 135 Euro, wobei etwa vierzig Prozent der Bevölkerung mit Einkommen von unter fünfzig Euro auskommen müssen.

Die Bevölkerung hat einen Selbstkostenanteil für kommunale Leistungen von etwa sechzig Prozent zu tragen. Dieser Anteil ist langsam, aber stetig gewachsen: noch 1992 waren es lediglich drei Prozent.

Nun stellt sich die Frage, ob es nicht besser wäre, wenn die Bürger die kommunalen Dienstleistungen zu hundert Prozent selbst bezahlen müssen und zugleich personengebundene Zuschüsse eingeführt würden. In Rußland ist gesetzlich festgelegt, daß diejenigen, die mehr als zwanzig Prozent des Familieneinkommens für ihre Wohnung aufbringen müssen, das Recht auf Wohnungszuschüsse haben. Jedoch erregt der Gedanke an eine "hundertprozentige Bezahlung" den Unwillen der Bevölkerung. In Woronesch und Uljanowsk - in diesen beiden Gebietszentren haben bei allen Wahlen bisher die Kommunisten gesiegt - gab es Protestdemonstrationen mit Tausenden Teilnehmern gegen die Vorhaben der Regierung, eine so volksfeindliche Reform der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft durchzuführen.

Empörung und Ängste haben durchaus berechtigte Ursachen. Denn diejenigen, die heute schon das Recht auf Wohnungszuschüsse haben - es sind acht bis zwölf Prozent der Bevölkerung - stoßen auf vielfältige bürokratische Hindernisse und müssen erniedrigende Prozeduren über sich ergehen lassen, wenn sie die für die Zuschüsse nötigen Formalitäten erledigen. Wenn nun eine hundertprozentige Bezahlung der Wohnung und Dienstleistungen eingeführt würde, werden nicht zehn Prozent, sondern die Hälfte der Bürger Zuschüsse beantragen müssen.

Daß alle Probleme auf Kosten der Bevölkerung gelöst werden sollen, erregt natürlich Empörung. Denn schließlich ist für die Krise der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft der Staat verantwortlich, der kommunale Leistungen für die Einrichtungen in den haushaltsabhängigen Bereichen schlicht nicht bezahlt. Die Schuld des Staates für die kommunalen Dienstleistungen beläuft sich mittlerweile auf insgesamt 5,5 Milliarden Euro. Gleichzeitig aber begleicht die Putin-Regierung in vorfristigen Raten Außenschulden in eben dieser Größenordnung.

Die kommunalen Dienste wälzen die Staatsschulden auf die Bürger ab, die korrektere Zahler sind. Hinzu kommt, daß Präsident Putin die "Stärkung der Machtvertikale" zu seiner Maxime erklärt hat, was unter anderem die Umverteilung der Steuern von den Gebieten und Munizipalitäten hin zum föderalen Zentrum und die Minimierung der schwachen Einkommensgrundlage der Selbstverwaltung bedeutet. Die Munizipalitäten sind gezwungen, die Zuschüsse an die Wohnungs- und Kommunalwirtschaft zu reduzieren, vor allem bei der Finanzierung der Grundsanierungen. Im Ergebnis stehen wir vor einem drohenden Verfall des Wohnungsbestandes sowie der Elektrizitäts- und Wassernetze. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Betriebsstörungen um 900 Prozent gestiegen.

Die Regierung hat im November 2001 das Reformprogramm für die Wohnungs- und Kommunalwirtschaft beschlossen. Wichtigster Eckpunkt des Programms bleibt wie in der Konzeption von 1997, die aufgrund von Protesten verschoben worden war, die Anhebung des Selbstkostenanteils der Bürger bei kommunalen Leistungen auf hundert Prozent und die Einführung von Zuschüssen für sozial Benachteiligte und Arme. Die Regierung behauptet, daß dies die Kommunalwirtschaft finanziell entlasten wird. Zugleich würden die Investitionen steigen und der Verfall des Wohnraumbestandes gestoppt. Zudem verweist die Regierung auf die Notwendigkeit, die Zahl der miteinander konkurrierenden Anbieter zu vergrößern sowie Wasser-, Gas- und Stromzähler einzubauen, damit die Bevölkerung weiß, für was sie bezahlt.

Aber all diese und andere Strukturreformen sind bislang nur sehr allgemein formuliert und deuten sich erst an. Die Regierung will die Reformen offensichtlich nicht damit einleiten, daß sie ihre Schulden bezahlt. Die Regierung möchte nicht zur Kenntnis nehmen, daß die Steigerung der Tarife für kommunale Leistungen in den letzten zehn Jahren um 1900 Prozent weder die Qualität verbessert noch zur Senkung der staatlichen Subventionen geführt hat. Die kommunale Wirtschaft wird zum "schwarzen Loch". Man plant auch nicht, großen Nachdruck auf die Kontrolle der natürlichen Monopole zu legen. Ich erinnere daran, daß die wichtigste kommunale Leistung das zentralisierte Heizsystem ist.

Die Regierungspartei "Einheitliches Rußland" schweigt, obwohl sie um die negative Haltung der Bevölkerung zu diesen Reformen weiß. Trotzdem wird sie die Regierung auf jeden Fall unterstützen. Die Position des Bundes der rechten Kräfte unterscheidet sich von der der Regierung nur durch mehr Radikalität und einen schnelleren Übergang zur vollständigen Bezahlung. Die KPdRF kann wenig Wesentliches sagen, außer, daß sie gegen "die volksfeindlichen Reformen" ist. Die sozialliberale JABLoko betont die Notwendigkeit von Strukturmaßnahmen, der Einführung eines Systems zur Erfassung des realen Preises, der Demonopolisierung und der öffentlichen Kontrolle über die Wohnungs- und Kommunalwirtschaft.

Egal, wie man das Problem dreht und wendet: Wir müssen eingestehen, daß die Frage der Wohnungs- und Kommunalwirtschaft im heutigen Rußland keiner Lösung zugeführt werden kann. Das Bevölkerungseinkommen liegt im Vergleich zu 1989 pro Kopf beinahe nur noch bei der Hälfte. Um den Verfall des Wohnungsbestandes und aller Versorgungsnetze zu stoppen, bedürfte es Investitionen in Höhe des gesamten staatlichen Jahreshaushaltes.

Die Probleme können nur unter den Bedingungen eines schnellen Wirtschaftswachstums gelöst werden.
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Visaregime seitens Polens, Litauen und Lettland für belarussische Bürger

Quelle: Pressemitteilung der Botschaft der Republik Belarus vom 10. Juni 2002, Berlin

Die Republik Belarus hat mit tiefer Besorgnis die Entscheidung der polnischen Seite zur Kenntnis genommen, die Vereinbarung vom 14. Mai 1985 zwischen der Regierung der UdSSR und der Volksrepublik Polen über die vereinfachte Regelung des Überschreitens der Staatsgrenze durch Bürger, die in grenznahen Regionen leben, zu kündigen und betrachtet mit großer Sorge die Absicht Polens, die Vereinbarung zwischen der Regierung der UdSSR und der Regierung der Volksrepublik Polen über den gegenseitigen visafreien Reiseverkehr von Bürgern beider Staaten vom 13. Dezember 1979 aufzukündigen.

Derartige Handlungen Polens und die ebenfalls geplanten Maßnahmen Litauens und Lettlands zur Einführung eines umfassenden Visaregimes gegenüber der Republik Belarus laufen den Prinzipien der guten Nachbarschaft zuwider und widersprechen dem Geist und den Grundsätzen der Helsinki-Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975, der Pariser Charta für ein neues Europa von 1990, sowie anderen grundlegenden Dokumenten der OSZE. Entsprechend diesen Dokumenten haben sich die Mitgliedsstaaten der OSZE unter anderem verpflichtet, die Aus- und Einreiseordnung schrittweise zu vereinfachen und flexibel zu handhaben sowie die Bewegungsfreiheit der Bürger auf ihren Territorien zu vereinfachen.

Bei Achtung des Rechtes eines jeden Staates, die Form der Teilnahme an Integrationsprozessen auf dem europäischen Kontinent zu wählen, vertritt die Republik Belarus die Auffassung, daß beliebige Schritte in diese Richtung nicht zur Herausbildung neuer Trennungslinien in Europa führen dürfen, was unabdingbar zur wesentlichen Reduzierung geschäftlicher, wissenschaftlich-technischer, kultureller und verwandtschaftlicher Kontakte zwischen den Bürgern von Belarus, Litauen, Lettland und Polen führt. Die Republik Belarus, die am Erhalt und der weiteren Entwicklung der historisch gewachsenen freundschaftlichen und engen gegenseitigen Beziehungen zu Lettland, Litauen und Polen interessiert ist, ruft die Regierungen dieser Länder auf, sich der Annahme nichtadäquater Beschlüsse zu enthalten, die an Zeiten des kalten Krieges und des "eisernen Vorhangs" erinnern und die der Idee der Herausbildung eines stabilen vereinten Europas einen nicht wiedergutzumachenden Schaden zufügen.

Ausgehend von einer Position der notwendigen Lösung auftauchender Probleme und im Zuge eines konstruktiven Dialogs, hält es die belarussische Seite für erforderlich, diesbezügliche Handlungen Polens, Litauens und Lettlands auf deren Übereinstimmung mit den von diesen Staaten im Rahmen der OSZE übernommenen Verpflichtungen zu prüfen. Ein gleichberechtigter und offener Dialog zur dargelegten Problematik würde die Stärkung der Autorität dieser gesamteuropäischen Organisation fördern und den Interessen der Völker der ihr angehörenden Staaten entsprechen.
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Präsident bis zum Ableben?


Am 8. August entschied auf seiner 12. Sitzung in Turkmenabad der turkmenische Chalk Maslachaty (Volksrat), das höchste Vertretungsorgan des Landes, daß Präsident Saparmurat Nijasow bis zu seinem Tod Präsident bleiben soll. Der Chalk Masla-chaty setzt sich aus mehr als 2000 Delegierten aus allen Gebieten Turkmenistans zusammen. Gemäß Verfassung gehören ihm der Präsident, die Parlamentsabgeordneten, gewählte Vertreter der Städte und Dörfer, die Kabinettsmitglieder, die Leiter der lokalen Exekutiven, die Leiter der Justizorgane und Vertreter gesellschaftlicher Organisationen an. Die Empfehlungen des Volksrates haben keine Gesetzeskraft, sind aber für alle Machtzweige bindend.

Nijasow lehnte allerdings am Folgetag den Titel ab. Dies erklärte er vor einer gemeinsamen Sitzung des Ältestenrates, des Volksrates und der nationalen Bewegung "Wiedergeburt". Er wolle seine Funktionen auf der Grundlage des vor zwei Jahren verabschiedeten Verfassungsgesetzes ausführen, nach dem er ohne eine Beschränkung der Frist seiner Vollmachten regieren kann. Er erklärte zudem, daß er im Jahre 2008 erneut auf das Thema der Wahlen zurückkommen werde.

Darüber hinaus lehnte Nijasow den ihm verliehenen Orden "Goldenes Zeitalter" aller drei Stufen und den Titel "Großer Schriftsteller Turkmenistans" ab, die ihm ebenfalls am Vortag vom Volksrat zuerkannt worden waren.
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