Auszüge:
Rußland und die EU dürfen die Chance nicht verpassen
von
Iwan Iwanow, Stellvertretender russischer Außenminister
Der Anfang des Jahres, des Jahrhunderts und des Milleniums ist ein guter Anlaß für Rückblick und Einschätzung der stattgefundenen Wandlungen.
Aus meiner Sicht verlief das vergangene Jahrhundert sehr günstig für die USA, es brachte viele Umbrüche für Europa, und war recht vieldeutig für Rußland.
Insgesamt läßt sich wohl feststellen, daß sich die Menschheit im 21. Jahrhundert in einer multipolaren Welt befindet. Neben den USA sind weitere
Schwerpunkte das geeinte Europa, Rußland und Japan. China, Südostasien und Lateinamerika erheben Anspruch auf diese Rolle.
Von besonderer Relevanz sind in diesem facettenreichen und widersprüchlichen Bild die Beziehungen zwischen der Europäischen Union
und Rußland, die in den letzten Jahren einen systematischen politischen Dialog begonnen haben.
Die Europäische Union wird sich nach Osten erweitern. Eine Frage sei erlaubt: Welche neuen Entwicklungsressourcen
erwartet sie dort? Ich sehe da nur zusätzlichen Freiraum und Arbeitskräfte, die es erst noch auf westeuropäischen
Stand zu bringen gilt. Sonst sind, zumindest vorläufig, von den neuen EU-Mitgliedern kaum wesentliche Leistungen
zu erwarten.
Der einstige Vorsitzende der Europäischen Kommission Jacques Delors verwies seinerzeit auf den "vierten
konzentrischen Ring der europäischen Integration" und meinte damit den Mittelmeerraum und die Sowjetunion.
Charles de Gaulle und Michail Gorbatschow sprachen zu verschiedenen Zeitpunkten von einem Europa "vom Atlantik
bis zum Ural", ohne jedoch ein wirtschaftlich detailliertes Konzept zu präsentieren.
Der Mittelmeerraum ist eine politisch labile Region und kann der europäischen Integration wohl kaum den
"zweiten Atem" verleihen. Ansprüche auf besondere Beziehungen zur EU melden einige postsowjetische Staaten
(die Ukraine, Moldowa, Georgien) an, aber die Eurounion kann sie wohl nur als Kunden und Satelliten
betrachten.
Im Unterschied zu den Satellitenstaaten hat die Russische Föderation nicht die Absicht, der EU beizutreten.
Denn Mächte solcher Größenordnung treten nicht fremden Bündnissen bei, sondern bilden eigene. Es ist für
Rußland unvergleichbar günstiger, eine unabhängige Außenpolitik in alle Richtungen zu verfolgen und hierbei
seine einmalige euroasiatische Lage auszunutzen. Es ist kein Zufall, daß Präsident Wladimir Putin die
Intensivierung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen Rußland und der Asiatisch-Pazifischen
Region anstrebt und sich zugleich eine viel effizientere Zusammenarbeit mit Westeuropa wünscht.
Rußland und die EU werden weiterhin als zwei eigenständige europäische Pole fortbestehen. Zwischen ihnen
sind meines Erachtens nur gleichberechtigte Vertragsbeziehungen und höchstens eine gemeinsame
Freihandelszone vorstellbar.
Aber auch in diesem Rahmen kann das Zusammenwirken sowohl Rußland als auch der EU viel bringen.
Zumindest zwei Lücken im EU-Potential - den Mangel an Naturressourcen, vor allem an Energieträgern,
und den Rückstand der westeuropäischen Wissenschaft, insbesondere der Grundlagenforschung - ließen
sich im Zuge einer Kooperation schließen. Man hat sich von beiden Seiten bereits darauf verständigt,
in den Energiedialog einzutreten. Moskau bietet den Europäern heute schon über dreißig Projekte auf
Production-Sharing-Basis. Rußland erhofft sich von der Kooperation satte Deviseneinkünfte, die es
für die nötige Überholung seiner Wirtschaft braucht.
Ausgelotet werden auch die Möglichkeiten im Forschungsbereich. Einzelne Beispiele wie die Abstimmung
der globalen weltraumgestützten Navigationssysteme, des europäischen Galileos und des russischen Glonas,
die Unabhängigkeit im Telekommunikationssektor verspricht, deuten auf perspektivreiche wissenschaftliche
Zusammenarbeit.
Moskau stellt aber fest, daß vielen europäischen Politikern und insbesondere der Brüsseler Bürokratie die
Einsicht fehlt, daß die Arbeit in diese Richtung intensiviert werden muß. Die Eurounion und Rußland nennen
sich zwar gerne strategische Partner, ihre Strategien aber unterscheiden sich deutlich. Denn während Moskau
umfassende wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit, sogar in einem so sensiblen Bereich wie Entwicklung
einer "europäischen Verteidigungsidentität", anstrebt, liegt der Schwerpunkt der EU-Strategie eher auf der
Belehrung der Russen, wie das Land in Richtung Demokratie, Bürgergesellschaft usw. umgestaltet werden sollte.
Im Rahmen des Energiedialogs versäumte die EU beispielsweise Expertengruppen zu bilden, obwohl Rußland
solche Gruppen bereits gebildet hat. Im wissenschaftlichen Bereich wird der Russischen Föderation der
Anschluß an wichtigere europäische Forschungsprogramme vorenthalten. Was die "europäische Verteidigungsidentität"
betrifft, so wäre Rußland im Interesse der Gewährleistung der gesamteuropäischen Sicherheit in vertretbaren
Formen zur militärisch-technischen Zusammenarbeit bereit. Die europäischen Partner versprechen jedoch
bisher nur, Rußland zu den nichtmilitärischen Aspekten des Programms zuzulassen. Die EU ist zwar Rußlands
größter Handelspartner, bleibt aber in puncto Investitionen in die russische Wirtschaft hinter den USA
zurück und muß daher einen Großteil der russischen Ressourcen über amerikanische Zwischenhändler beziehen.
Leider distanziert sich Brüssel von der Schaffung eines Systems, das Investitionen in die russische
Wirtschaft fördern würde.
Die Erweiterung der EU nach Osten wurde von Moskau bereits längst als offensichtliche Perspektive
anerkannt, aber Beratungen über die Auswirkung der Osterweiterung auf die russischen Interessen
in Mittel- und Osteuropa sowie im Baltikum stehen noch aus. Anstatt die Frage sachlich zu erörtern,
werden Rußland völlig unverbindliche Diskussionen vorgeschlagen. Aufgrund der Reaktion der EU auf das
Geschehen in Tschetschenien hat man fast ein Jahr für die Zusammenarbeit verloren.
Freilich gibt es auch in Rußland Barrieren, vor allem bürokratischer Art, die die Entwicklung der
Zusammenarbeit mit der EU behindern. Man kann sich jedoch nicht des Eindrucks erwehren, daß die
Schwierigkeiten vor allem auf jene Beamte zurückzuführen sind, denen die EU-Führung die Politik
gegenüber Rußland anvertraut hat. Diese zeichnen sich vor allem aus durch nachhaltige antirussische
Vorurteile und mangelnden strategischen Weitblick. Ihre Konfliktsucht überwiegt die Fähigkeit,
Berührungspunkte bei gemeinsamen Interessen zu finden und die Zusammenarbeit zu entfalten.
In den Metropolen einiger EU-Mitgliedsländer tut man sich offenbar schwer mit der Anerkennung
der neuen europäischen Rolle Rußlands. Es wird allgemein die Vorstellung vertreten,
die Zusammenarbeit zwischen Rußland und der EU schmälere die Interessen von Dritten,
und Rußland versuche angeblich, Europa in eine antiamerikanische Verschwörung einzubeziehen.
Indes ist der Synergieeffekt der zu vereinigenden Potentiale der Russischen Föderation und der
Eurounion durchaus überschaubar: Man kann auf die Festigung der Positionen der Partner und Europas
insgesamt im fairen und zivilisierten internationalen Wettbewerb rechnen.
Tschetschenischer Teufelskreis
von
Alexander Iskanderjan, Direktor des Zentrums für Kaukasusstudien, Moskau
Rußlands Präsident Wladimir Putin hat am 22. Januar 2001 Verteidigungsminister Igor Sergejew vom Kommando
des Operativen Stabs entbunden und die Führung des Sonderunternehmens in Tschetschenien dem Direktor des
Föderalen Sicherheitsdienstes Nikolai Patruschew übertragen. Dieser Wechsel bedeutet im Prinzip, daß die
Truppen des Verteidigungsministeriums in Tschetschenien offiziell nichts mehr zu tun haben. Ausgehend von
der Formel, daß der "Große Krieg" beendet ist, definierte Putin die weiteren Maßnahmen als "reine
Antiterroraktion". Zum Leiter des regionalen Einsatzstabs wurde German Ugrjumow, stellvertretender
Direktor des Föderalen Sicherheitsdienstes und Chef des Departements zum Schutz der Verfassungsordnung,
ernannt. Der Einsatzstab soll am 15. Mai dieses Jahres dem Präsidenten über erste Ergebnisse berichten.
Bereits eine Woche vorher hatte Tschetschenien einen Ministerpräsidenten bekommen. Stanislaw Iljassow
wurde in dieses Amt berufen. Er war vorher Verwaltungschef der Nachbarregion Stawropol und hatte dort
die Gouverneurswahlen verloren. Zuvor war Wladimir Jelagin, ehemaliger Gouverneur einer anderen russischen
Region - des Gebiets Orenburg, zum Minister für den Wiederaufbau Tschetscheniens ernannt worden. Auch er
hatte in seinem Gebiet die Gouverneurswahl verloren. Die Berufung des letztgenannten erklärte Vizepremier
Jastrschembski damit, daß Tschetschenien jetzt einen Lobbyisten auf den Wandelgängen in Moskau habe und
der Kreml andererseits einen Mann bekomme, der für Tschetschenien "zuständig" ist. In diese Funktion
sollte eigentlich Achmad Kadyrow, der von Moskau eingesetzte tschetschenische Verwaltungschef, berufen
werden. Diese Änderung hat jedoch niemanden in Verlegenheit gebracht.
Kadyrow war der letzte, der den Namen "seines" Ministerpräsidenten erfahren hatte. Ein paar Stunden vorher
erklärte er noch, daß er das Amt des Ministerpräsidenten selbst besetzen wird. Erst nach der Ernennung
sagte Kadyrow, daß Iljassow seiner Auffassung nach der beste Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten
ist. Und erst einen Tag später wurde Iljassow Kadyrow vorgestellt. Der recht anekdotische Charakter des
Geschehens ist eigentlich eine Projektion der Ratlosigkeit, die im Kreml inbezug auf Tschetschenien
herrscht, auf die politische Realität. Rußland ist offensichtlich im Tschetschenienkrieg "verheddert":
Die Kriegshandlungen werden fortgesetzt; die Partisanen können unmöglich ausgeschaltet werden; der
"Minenkrieg" - man weiß nicht, wie überhaupt gegen ihn vorzugehen ist - nimmt an Intensität zu. Zudem
verhalten sich die Beamten der sogenannten tschetschenischen Administration wie Spinnen in einem Glas.
Sie reißen sich um Einflußbereiche und Finanzströme, aber die reale Situation beeinflussen sie nicht im
geringsten. Es genügt darauf hinzuweisen, daß der tschetschenische "Chef" Kadyrow sogar Angst hat, aus
seiner Heimatstadt Gudermes nach Grosny, der Hauptstadt der Republik, der er angeblich vorsteht, zu reisen.
Angst hat er dabei nicht nur vor den Banditen. Kadyrow wurde sogar schon von russischen Soldaten an
Kontrollstellen beschossen und mußte dann noch vor einer TV-Kamera erklären, daß er diesbezüglich keine
Forderungen hätte. Eben die Soldaten von diesen Kontrollstellen sollen jetzt abgezogen werden.
In Wirklichkeit sind von diesen Maßnahmen keine ernsthaften Wandlungen zu erwarten. Die friedlichen
Einwohner Tschetscheniens werden nicht von den abzuziehenden Truppen des Verteidigungsministeriums,
sondern von Zeitsoldaten des Innenministeriums und den sogenannten "Reinigern" bedroht, die nicht vom
Putinschen Erlaß betroffen sind. Kadyrow besaß in Tschetschenien nie reale Macht und konnte sie auch gar
nicht besitzen. Er übt eine ausgesprochene "Imitationsrolle" aus: Die reale Macht gehört in Tschetschenien
den Militärs im weitesten Sinne dieses Wortes und darunter dem Innenministerium. Anders kann es auch gar
sein: Es wird doch dort ein Krieg geführt und die Militärs sind unter diesen Verhältnissen gar nicht
gewillt, den Beamten - zudem noch Tschetschenen - untergeordnet zu sein, die ohne irgendwelche realen
Befugnisse bestellt worden sind.
Der jetzt ernannte Iljassow erhielt ebenfalls keine realen Befugnisse: Seine Regierung wird ein rein
technisches Organ sein und nur die Objekte festlegen, die wiederaufzubauen sind. Der Versuch, die
Bestechung auszuschalten, wird auch diesmal sicherlich wie bereits im Großen Krieg scheitern: Die
Gelder werden ohne Probleme auch innerhalb Moskaus gestohlen. Die Iljassowsche Regierung wird bei der
Auflistung der wiederaufbaupflichtigen Objekte den Verwendungszweck der Gelder in Tschetschenien
einigermaßen beeinflussen können. Das ist aber schon wichtig. Im Streben, alles und alle den Mitarbeitern
des Föderalen Sicherheitsdienstes unterzuordnen, sind zum Teil auch Versuche zu erkennen, die Korruption,
darunter auch in den Truppen einzudämmen. In diesem Fall handelt es sich darum, daß die Geheimdienste die
Handlungen der Mitarbeiter des Innenministeriums koordinieren werden, deren Superbestechlichkeit keiner
Beweise bedarf.
Aber auch diese Maßnahmen werden zweifellos scheitern. Im voraus haltlos sind alle Versuche, einen
wirksamen, zentralistischen Mechanismus zu finden, mit dem Tschetschenien im Partisanenkrieg verwaltet
werden könnte, in dem die friedliche Bevölkerung Repressalien ausgesetzt und beliebige Beamte von der
Bevölkerung allein aus dem Grund abgeschnitten sind, weil sie eben Beamte sind.
Um die Situation zu verändern, muß man tatsächlich legitime Machtorgane schaffen. Dies würde
beispielsweise freie Wahlen voraussetzen, die unter den heutigen Verhältnissen bereits im voraus
unrealistisch sind.
Die reale Legitimierung der Macht in Tschetschenien erfordert, ins politische Feld auch die sogenannten
Separatisten einzubeziehen, denn solange sie aus dem politischen Bereich verdrängt sind, werden sie ihre
Kampfhandlungen fortsetzen. Die russischen Militärs werden entsprechende Gegenmaßnahmen ergreifen, wobei
sich diese gegen die friedlichen Einwohner richten werden, da die Truppen den Partisanen real nicht
entgegenwirken können. Die Bevölkerung wird dies zunehmend verärgern. Dies bedeutet aber, daß die
Popularität beliebiger prorussischer Machtorgane gleich Null sein wird. Um Ämter in diesen Organen
werden sich somit nur sehr spezifische Menschen bemühen, die bereit sind, in den von der Bevölkerung
abgeschotteten Siedlungen zu leben und keine Macht zu besitzen. Die Macht wird ihrerseits immer neue
Schemata erfinden, um die Verluste durch diese Situation zu minimieren. Aber auch das wird schief gehen.
Es ist nämlich ein Teufelskreis.
Nach wie vor bestehen Illusionen hinsichtlich "einfacher Entscheidungen" von der Art Festigung der
Vertikale durch den Aufbau eines "System von Gewichten und Gegengewichten" aus voneinander unabhängigen
Beamten sowie Beamten, die nicht nach ihrem Einfluß auf die zu verwaltende Bevölkerung, sondern nach dem
Prinzip ihrer Bequemlichkeit für die föderale Zentrale vorgeschlagen werden. Das ist kontraproduktiv.
Reale Ergebnisse kann unter solchen Bedingungen nur ein Verhandlungsprozeß mit echten tschetschenischen
Politikern, die in der Bevölkerung Gewicht haben, das heißt mit den Partisanen und vor allem mit dem
Politiker, dessen Legitimität die ganze Gesellschaft oder deren bedeutender Teil anerkennt, das heißt
mit Maschadow bringen.
Um die Verhandlungen erfolgreich zu machen, muß man sie jedoch mit ALLEN politischen Kräften führen.
Da allerdings nicht nur der Zustand Tschetscheniens, sondern auch der Zustand der russischen politischen
Eliten, der Öffentlichkeit in Rußland usw. ebenfalls eine Realität ist, ist die Wahrscheinlichkeit dieser
Entwicklung nur sehr gering. Daher stürzt man sich von einem wenig brauchbaren Modell auf ein anderes.
Die russischen politischen Eliten sind nämlich gegenwärtig nicht zu Verhandlungen bereit.
Ohne Verhandlungen werden jedoch alle anderen Maßnahmen nichts nützen.
Bestellen Sie den kompletten "Wostok Newsletter" online!