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Herbstprobleme in der russischen Politik
von Jelisaweta Sergejewa, Journalistin, Moskau
Eine Serie tragischer Ereignisse im August 2000 - der Bombenanschlag in der Unterführung am Moskauer Puschkin-Platz und der Untergang des Atom-U-Bootes "Kursk" - hat ganz Rußland schockiert, vor allem auch, weil sich die Ereignisse praktisch vor den Augen der Gesellschaft abspielten. Zunächst entstand der Eindruck (nicht zuletzt aufgrund des Einflusses der russischen wie der ausländischen Medien), daß Rußland mit der havarierten "Kursk" buchstäblich auf Grund gehen werde. Die Spannungen in der Gesellschaft ließen dann aber wieder etwas nach, und jetzt ist die Zeit, um die Ereignisse und vor allem die Reaktion darauf zu analysieren und Prognosen anzustellen. Hierbei tritt ein sehr aufschlußreicher Umstand zutage: Die Ereignisse und die Konsequenzen daraus werden von den wichtigsten Massenmedien, einigen Politikern und Fachleuten völlig anders eingeschätzt als von der Bevölkerung. Viele Politiker und meinungsbildende Journalisten reagierten heftig und emotional, sie schoben die Verantwortung für die Ereignisse größtenteils Präsident Putin zu. Die Russen, aus deren Sicht sich der Präsident während der erfolglosen Rettungsversuche für die Besatzung der "Kursk" nicht ganz richtig verhielt, sind jedoch in ihrer absoluten Mehrheit nicht gewillt, alle Schuld Wladimir Putin zuzuweisen. Auch jetzt noch gilt in der Öffentlichkeit Putins Vorgänger Boris Jelzin als Hauptschuldiger für alle Nöte, die Rußland zu bewältigen hat, und Jelzin wird auch auf längere Sicht als Hauptverantwortlicher gelten. Festzuhalten bleibt, daß die Popularität Putins ungeachtet der ihren Ausmaßen und ihrer Tiefe nach einmaligen Kritik etwa auf dem gleichen Stand von 55 bis sechzig Prozent geblieben ist.
Die Stimmung in der Gesellschaft ist ungeachtet der jüngsten tragischen Ereignisse durch eine entspanntere und mäßig optimistische Einschätzung der Zukunft des Landes geprägt. 65 Prozent der Befragten meinen beispielsweise, daß ein weiterer Verfall der russischen Wirtschaft kaum wahrscheinlich ist; 82 Prozent glauben nicht an den Zerfall der Russischen Föderation; 72 Prozent halten es für unwahrscheinlich, daß Rußland in völlige wirtschaftliche und politische Abhängigkeit vom Westen gerät; und ebenfalls 72 Prozent glauben nicht, daß in Rußland eine Diktatur eingeführt wird. "Schauermärchen", wie Bürgerkrieg, eine neue Revolution, das Durchdringen der Gesellschaft mit faschistischen Ideen, wie sie Anfang der 90er Jahre gang und gäbe waren, werden überhaupt nicht mehr ernst genommen. Die Tatsache, daß in Rußland heute endlich eine Macht existiert, der die Bevölkerung mehrheitlich vertraut, hat jedoch auch eine Kehrseite. Es handelt sich um wachsende paternalistische und konformistische Stimmungen. Ein Großteil der Bevölkerung denkt in etwa wie folgt: "Wir haben Putin gewählt. Wir vertrauen ihm. Er soll mit dem, was jetzt im Lande geschieht, zurechtkommen." Merkwürdigerweise verhält sich in dieser Frage auch ein bedeutender Teil der politischen Elite ähnlich wie die Bevölkerung. Putin steht heute praktisch keine ernstzunehmende Opposition gegenüber. Dies ist erstaunlich, denn nicht alle seiner Vorhaben werden unterstützt. Trotzdem wird ihm von keiner Seite nennenswerter Widerstand entgegengesetzt. Die Ausnahmen bilden die beiden führenden russischen Fernsehkanäle ORT und NTW, die von den Medienmogulen Boris Beresowski und Wladimir Gussinski kontrolliert werden. Eine neue Erscheinung im politischen Leben im postjelzinistischen Rußland ist die Tatsache, daß sich die Kristallisierungszentren langsam von den politischen Parteien weg und hin zu den mächtigsten Mediengruppen verschieben. Eine absolut absurde Situation zwar, aber eben so stellt es sich heute dar.
Trotzdem könnte es zu einer großen Konfrontation zwischen Macht und Bevölkerung kommen, wenn versucht wird, den sogenannten Sozialvertrag zu realisieren, den eine Gruppe von dem Präsidenten nahestehenden Wirtschaftsfachleuten mit German Gref an der Spitze erarbeitet und den die Regierung bereits gebilligt hat. Umfragen belegen, daß die überwiegende Mehrheit der Russen den Begriff "starker Staat" (von dem Putin gerne spricht) klar und eindeutig vor allem als "gerechter Staat" versteht. Dem Standpunkt des Präsidenten, den er in seiner Botschaft an die Föderalversammlung verkündet hat, daß der russische Staat eine nicht zu schulternde "soziale Last" trägt, wird sie ganz sicher nicht zustimmen. Was die konkreten Maßnahmen des "Sozialpaketes" (besser gesagt, dessen, was an die Öffentlichkeit gelangte) betrifft, so reagiert die Bevölkerung darauf mit Ablehnung. Dies betrifft vor allem die möglichen Schritte der Regierung. Für den Übergang zu einem gebührenpflichtigen Bildungs- und Gesundheitswesen sprechen sich nur vier Prozent der Befragten aus, während 91 Prozent strikt dagegen sind. 84 Prozent der Befragten sind dagegen, daß die kommunalen Leistungen vollständig von den Bürgern bezahlt werden sollen, dafür lediglich sieben Prozent. Die Erhöhung des Rentenalters bei Männern auf 65 Jahre und bei Frauen auf sechzig Jahre stößt bei 89 Prozent der Befragten auf Ablehnung und findet nur bei fünf Prozent Zustimmung. Etwas freundlicher reagieren die Russen auf die Einführung der einheitlichen Einkommenssteuer von dreizehn Prozent und den Übergang zu einem akkumulierenden Rentensystem. Jedoch auch bezogen auf diese beiden Reformen übersteigt die Zahl der Gegner jene der Befürworter um mehr als das Doppelte: 53 Prozent der Befragten lehnen die einheitliche Einkommenssteuer ab, 23 Prozent stimmen ihr zu. 49 Prozent sind gegen das neue Rentensystem, und nur 23 Prozent begrüßen diese Reform. Die Bevölkerung unterstützt die direkte Sozialhilfe für sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen (56 Prozent sind dafür, dreißig Prozent dagegen). Allerdings hat man diesbezüglich den Eindruck, daß die Bürger keine klaren Vorstellungen vom tatsächlichen Kern dieser Maßnahme haben, die nämlich in Wirklichkeit eine Kürzung der sozialen Vergünstigungen und eine Beschränkung der Bevölkerungsgruppen bedeutet, die diese erhalten werden. Die Bevölkerung hätte sicher nicht so negativ auf das vorgeschlagene "Sozialpaket" reagiert, wenn dessen Urheber erstens plausibel und vor allem öffentlich erklärt hätten, was sie eigentlich vorschlagen. Statt dessen wurde eine Menge verschwiegen, gab es Widersprüche und Vieldeutigkeiten. Zweitens hätte man das Ziel dieser Sozialreform, nämlich den Aufbau einer Gesellschaft der gleichen Chancen und Möglichkeiten, deutlich definieren müssen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß eine qualitative, umfassende und dabei praktisch kostenlose medizinische Versorgung, gute Wohnungen und Erholungsmöglichkeiten vor allem den Angehörigen der Nomenklatura zuteil werden. Deren Kinder können auch problemlos an den Prestigehochschulen des Landes studieren. Auffallend ist auch der Tatbestand, daß die Realisierung der beschriebenen Maßnahmen nicht nur die schwächsten Bevölkerungsschichten, sondern auch den Mittelstand im nichtstaatlichen Sektor der Wirtschaft negativ treffen kann. Dieser Mittelstand hat ein den Beamten vergleichbares Einkommen, allerdings nicht deren Privilegien. Im Ergebnis könnten wir mit einem neuen "Klassenkonflikt" konfrontiert sein, der diesmal jedoch nicht zwischen "Kapital und Arbeit", sondern zwischen den Beschäftigten des nichtstaatlichen Sektors, der heute bereits Millionen Menschen Arbeit gibt, und der Bürokratie ausgetragen wird. Insgesamt kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit prognostizieren, daß die Macht in Rußland die wichtigsten Probleme noch zu lösen hat. Die Gesellschaft erholt sich in psychologischer und materieller Hinsicht von den Auswirkungen der Augustkrise 1998. Alle Versuche, die Lebensbedingungen der Bevölkerung, darunter Einkommen, Arbeit, Wohnung, Gesundheits- und Bildungswesen, anzugreifen, werden vielleicht nicht unbedingt breite soziale Proteste auslösen, aber sicherlich zu stummer Unzufriedenheit und in der Konsequenz zu einer neuen Entfremdung der Bevölkerung von der Macht führen.
Über diesen Mann sind viele Aussagen im Umlauf. Er sei ein "Kremlstratege", "Initiator des Gedankens des vorgezogenen Rücktritts Jelzins", "Vernichter der Opposition", ein "geistiger Rasputin". Er denkt ungewöhnlich und jesuitisch, als hätte er nicht die Fakultät für Geschichte der Universität Odessa, sondern eine Opus-Dei-Einrichtung absolviert. Er bleibt immer im Schatten, beeinflußt jedoch das Geschehen stark. Er gehört zum neuen Klan derjenigen, die aus dem Hintergrund der Kremlbühne nach vorne treten, ihren Namen nennen und zeigen, daß nicht der Präsident, sondern eben sie die neuen Ideen und Gedanken unterbreiten, die Rußland aufrühren. Heute bemüht sich Gleb Pawlowski, diesen Abschnitt seines Lebens als die Lebensstrecke eines illegalen Revolutionärs darzustellen, der Hausdurchsuchungen und Verhöre erlebte und geheime Pressekonferenzen gab. Es gibt allerdings Tatsachen, die beweisen, daß diese Zeit in der Biographie des jungen Provinzlers ganz und gar nicht so eindeutig geprägt war. Sein Ruf geriet durch die Meldung ins Wanken, daß er damals zugestimmt hatte, mit den Sicherheitsorganen zusammenzuarbeiten. Die russische Presse berichtete, daß aufgrund seiner Aussagen Wjatscheslaw Igrunow, der die Samisdat-Bibliothek aufbewahrte, verhaftet wurde. Jelena Bonner, Witwe des Akademiemitglieds Sacharow, erklärte, daß eben Pawlowski Aussagen über den Sohn und die Frau des bekannten Menschenrechtlers Sergej Kowaljow gemacht hatte. Wie dem auch sei, Gleb Pawlowski wurde damals wegen der Herausgabe der Zeitschrift "Poiski" angeklagt und verurteilt. Seine Tätigkeit wurde als Verleumdung der sowjetischen Gesellschaftsordnung bewertet, und er wurde für drei Jahre in die Republik der Komi verbannt. Dort schrieb er voluminöse Traktate an das Politbüro des ZK der KPdSU und das KGB mit Belehrungen, wie Rußland zu retten sei. Nach Ablauf der drei Jahre wurde dem jungen Abenteurer verwehrt, in Moskau zu leben. Er kehrte jedoch trotzdem in die Hauptstadt zurück und beteiligte sich am Aufbau der ersten legalen politischen Oppositionsgruppe - dem "Klub der sozialen Initiativen". Als nächste Stufe seiner Laufbahn diente die Zeitschrift "Der Frieden und das 20. Jahrhundert", die dem Sowjetischen Friedenskomitee nahestand. Bei diesem kleinen Magazin stieg er zum Chefredakteur auf.
Aus Protest gegen die Schritte von Präsident Jelzin zur Einschränkung der Pressefreiheit (geschlossen wurden die Zeitung des Obersten Sowjets der RSFSR und das Fernsehprogramm "Das Rote Quadrat"; auch seine Agentur war massivem Druck ausgesetzt) verließ Pawlowski "Postfaktum" und reiste in die USA. Er suchte Partner und versuchte, die Datenbasis seiner Agentur an Reuters zu verkaufen. Diese Hoffnungen gingen aber nicht in Erfüllung. Irgendwie mußte man natürlich weiterleben. Im Jahre 1995 saß Pawlowski bereits im Sessel des Herausgebers der Zeitschrift "Sreda", die unter der Schirmherrschaft des Europäischen Massenmedieninstituts herausgegeben wurde. Im gleichen Jahr wurde Gleb Pawlowski auch im Bereich des politischen Consultings aktiv. Er gründete die Stiftung für eine effektive Politik, die wegen ihres skandalumwitterten Ruhmes schnell als "Stiftung der Politik der Effekte" tituliert wurde. Diese Effekte wirkten mitunter wie eine Bombe. Als erster in der Reihe der Skandale steht die in der Zeitung "Obschtschaja gaseta" publizierte "Version Nr. 1" - die Analyse eines Drehbuches einer Verschwörung gegen den russischen Präsidenten Jelzin. Nach Aussage des Autors beteiligten sich Juri Luschkow, Wladimir Schumeiko, Oleg Soskowez und Michail Poltoranin daran. Im Zusammenhang mit dieser Veröffentlichung wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Die Redaktion der Zeitung wurde wegen "die Gesellschaft destabilisierenden und die Verfassung aufweichenden" Handlungen angeklagt. Die Kammer für Informationsstreitigkeiten wertete die Veröffentlichung als Warnung an die Gesellschaft und sogar als Versuch, die politische Entwicklung in Rußland mittels Gewalt zu ändern. Die Zeitung berief sich darauf, daß Pawlowski dieses Material erarbeitet hatte. Der Autor hingegen verwies darauf, daß die "Version Nr. 1" lediglich ein Arbeitspapier und zudem von seinem Tisch gestohlen worden sei. Eine andere skandalöse Geschichte betraf die "Sache Fadin". Fadin war Journalist, er verunglückte unter rätselhaften Umständen bei einem Unfall tödlich. Fadin und Pawlowski waren befreundet. Ein Mitarbeiter der Stiftung teilte noch vor dem Begräbnis mit, daß er in seinem Briefkasten eine Diskette mit dem letzten Artikel des Reporters gefunden habe, für den er angeblich ermordet worden sei. Aus dem grob zusammengeschmierten Material lugten jedoch allerorts die Ohren heraus, es stank nach Provokation. Die Show am noch offenen Sarg mißlang. Dies war das letzte Ereignis, das Pawlowski den Ruf einbrachte, daß es für ihn keinerlei ethische Normen gibt. Der "politische Hexenmeister" fiel dem Kreml auf. Der Jelzin-Berater Valentin Jumaschew und Jelzins Tochter Tatjana Djatschenko führten den scharfzüngigen und zu allem bereiten politischen Technologen in die Präsidialadministration ein. Pawlowski wurde neben vielen anderen ins Team aufgenommen, das im Präsidentschaftswahlkampf 1996 für "Zar Boris" arbeitete. Er vermochte es, sich selbst in den Stand eines Hofanalytikers zu setzen. Gegner von Pawlowski bezeichnen die Stiftung, die übrigens neunzig Mitarbeiter beschäftigt, "Gedankenlieferant des Hofes Seiner Kaiserlichen Majestät". Im Kreml gehen laufend Analysen zu verschiedensten Themen ein: "Besonderheiten der Woche", "Einschätzung der Macht", "Durchsikkern von Informationen" und "Einschätzung der Politiker in den Massenmedien". In der ersten Phase verachtete der Chef der neuen "Fabrik der Träume" keine Möglichkeit, um Geld zu verdienen. Er organisierte die Wahlkampagne des Kongresses der russischen Gemeinden, richtete Internetseiten für Sergej Kirijenko und Boris Nemzow ein, bildete im digitalen Netz das sogenannte Parlament der Zukunft, das ausschließlich im virtuellen Raum arbeitet, und unterstützte sogar gemeinsam mit Media Most im Internet die Wahlkampagne von Barak in Israel, der auf Stimmen des aus Rußland und den GUS-Staaten eingereisten Teils der Bevölkerung hoffte. Die meisten Gelder flossen der Stiftung jedoch zu, als Pawlowski gemeinsam mit der Föderalen Agentur für Regierungskommunikation und -information ein einheitliches Informationsversorgungssystem für die Regierung Rußlands aufbaute. In die Internet-Site "gazeta.ru" pumpte der Erdölkonzern JUKOS Hunderttausende Dollar.
Die Stiftung hat beispielsweise eine eigene Site gegen Luschkow geschaffen, die völlig offen Feindschaft gegenüber dem Bürgermeister Moskaus und seiner Bewegung "Vaterland" bekundet. Die Pawlowskischen Bemühungen verwandelten das Internet in Rußland in ein ideales Medium für die Verbreitung anonymer Meldungen unterschiedlichsten Inhalts - angefangen bei Spekulationen und Gerüchten bis hin zu speziell zusammengestelltem kompromittierendem Material. Die Stiftung monopolisierte einen Großteil des russischsprachigen Netzes. Während des Wahlkampfes 1999 tauchte Gleb Pawlowski jeden Freitag im Kreml auf, um an der Beratung über die Erarbeitung der Strategie der Präsidialadministration teilzunehmen. Auf einer Pressekonferenz von Interfax verkündete er, daß seine Stiftung die Absicht habe, eine bestimmte Zusammensetzung der Staatsduma mit einem großen Anteil an den Präsidenten unterstützenden Abgeordneten zu sichern. Unbestreitbar ist die Leistung der Stiftung für den Erfolg der Bewegung "Einheit" und ihrer Führer bei den Dumawahlen im Dezember. Am Wahltag entschied sich die Pawlowski-Mannschaft für einen sehr riskanten Schritt, um die Zahl der für die "Einheit" stimmenden Wähler zu steigern. Die Stiftung gab ab 5.00 Uhr morgens im Internet Umfrageergebnisse aus einzelnen russischen Regionen bekannt. Dabei wurden aus den Wahllokalen kommende Wähler über ihr Abstimmungsverhalten befragt. Die aufdringliche Schlußfolgerung, die den ganzen Tag im Fernsehen und Rundfunk kommentiert wurde, lautete: Das präsidentenorientierte Wahlbündnis "Einheit" belegt mit Sicherheit den zweiten und in einigen Regionen sogar den ersten Platz. Zwar wurde Pawlowski nicht wegen Verletzung der Wahlgesetze angeklagt, doch diese Manipulation der Öffentlichkeit brachte "Einheit" zweifellos mehr Stimmen. Gleb Pawlowski wird im Kreml gern gesehen. Er zeigt offen seine Freude, wenn er hört, daß er nicht der Letzte derjenigen ist, die Putin "gemacht" haben. Das Leben zeigt, daß das, was die "graue Eminenz" heute sagt, morgen in Erfüllung geht. Sechs Monate vor dem vorzeitigen Rücktritt Jelzins sagte Pawlowski dieses Ereignis in mehreren Interviews voraus und brachte im Internet sogar ein Zitat aus einem angeblichen Interview mit dem Präsidenten. Heute ist klar, daß er eine der Schlüsselfiguren war bei der Erarbeitung der Strategie eines würdigen Rücktritts Jelzins von der politischen Bühne und der Umwandlung der Stiftung für eine effektive Politik in eine der wichtigsten Strukturen, die für die Organisation und Durchführung der Präsidentschaftswahlkampagne von Putin zuständig waren. In der Stiftung entstand der Gedanke, das Zentrum für strategische Entwicklungen zu gründen. Dieses Zentrum arbeitet heute intensiv an den Grundlagen einer neokonservativen Entwicklungsstrategie für Rußland in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts. In die russische Presse gelangten umfangreiche Auszüge eines Gesamtplans zum Aufbau einer globalen Propagandamaschinerie und deren Betrieb im Reformprozeß, den die Mitarbeiter der Präsidentenverwaltung und die Stiftung im Auftrag von Woloschin erarbeitet haben. Ohne Zwischentöne sind folgende Empfehlungen aufgeführt: die überregionalen und regionalen Massenmedien sind in ihrer Mehrheit der Staatsmacht zu unterstellen; die Journalisten und Experten, die heute die Massenmedien beherrschen, sind vollständig zu ersetzen; bis zum Dezember muß die linke Opposition gespalten und beseitigt werden. Diese Empfehlungen belegen, in welchen Tiefen die Informationskriege in den Fernsehkanälen, die Verfolgungen der Medienmagnaten, die Strategie zur Einschränkung der Pressefreiheit und die Einführung der Zensur erarbeitet wurden. Ich will aber das Image von Gleb Pawlowski, der sich Präsidentenberater nennt, nicht verteufeln. Ich will nicht abwägen, inwieweit dieser Mann klug und inwieweit er unheilvoll ist. Politische Renegaten haben immer ein kompliziertes Schicksal. Das neue Regime, das sich demokratisch nennt, braucht das raffinierte Gehirn dieses Mannes, der sich selbst als Polittechnologe bezeichnet. Der Kreml bestallte diesen Mann, um Gedanken zu generieren, die Rußland noch öfter erschüttern werden. Es ist eine große Kunst, intellektuell jenen zu dienen, die an der politischen Spitze stehen. Schließlich: Nach der Zugehörigkeit zu den Lügnern folgen unmittelbar auf die Politiker die PR-Leute - so die seriöse Zeitschrift "Karriere".
Zu den wichtigsten politischen Ereignissen dieses Jahres gehören in der Republik Belarus natürlich die Parlamentswahlen.
Die absolut unbeschränkte Beteiligung der Vertreter ganz unterschiedlich orientierter gesellschaftlicher und politischer Kräfte, die allerdings eint, daß sie ihr Augenmerk auf die Zukunft des Landes lenken, belegt aufschlußreich, daß der Dialog vor allem als Mittel zur Konsolidierung der belarussischen Gesellschaft im Interesse der demokratischen Entwicklung des Landes dient und gestattet, ordentliche Bedingungen für faire, gerechte und freie Wahlen zum belarussischen Parlament zu schaffen. Die Ergebnisse unseres Dialogs sind bekannt. Es handelt sich vor allem um das Konzept zu Änderungen am Wahlgesetzbuch, darunter solche, die die Bildung der Wahlkommissionen, den Status der internationalen und einheimischen Beobachter und andere Fragen betreffen, die eine freie und gerechte Durchführung der Wahlen sichern. All diese Änderungen wurden kurzfristig erörtert und ins Wahlgesetz des Landes aufgenommen. Im Ergebnis entstand ein ausbalanciertes und demokratisches Dokument, das unsere Wahlgesetzgebung in hohem Maße verbessert. Man muß in Erinnerung rufen, daß Vorschläge zu Änderungen an der Wahlgesetzgebung auch von Parteien unterbreitet wurden, die heute kundtun, daß sie sich nicht an den Parlamentswahlen beteiligen werden.
In bezug auf die Zusammensetzung des Kandidatenkorps nach Parteien lassen sich nach der Nominierung die folgenden Ergebnisse nennen. Ursprünglich wollten 768 Anwärter um die Parlamentssitze wetteifern. Zu den Wahlen zugelassen wurden schließlich 550. Die Agrarpartei schickt demnach zwölf Kandidaten, die Belarussische Patriotische Partei neun, die Kommunistische Partei Belarus 36, die Partei der Kommunisten Belarus 67, die Liberaldemokratische Partei 84, die Republikanische Partei zwölf, die Republikanische Partei der Arbeit und Gerechtigkeit elf und die Sozialdemokratische Partei der Volkseintracht drei Kandidaten ins Rennen. Diejenigen, denen die Kreiskommission die Ausgabe der Kandidatenausweise verweigert hat, können diese Entscheidung anfechten. Der abgewiesene Anwärter hat das Recht, sich mit einem Antrag auf Zulassung an das Oberste Gericht der Republik Belarus zu wenden, das diesen innerhalb von drei Tagen verhandeln muß. Zum Problem der Massenmedien möchte ich folgendes feststellen. Da der Zugang zu den Massenmedien im Wahlkampf von extrem großer Bedeutung ist, wurde das Prinzip verfolgt, daß gleiche Bedingungen für die Nominierung der Kandidaten und deren Agitationskampagnen gewährleistet werden müssen. Im Fernsehen werden weitgehend die "Rundtischgespräche" von Kandidaten sowie Diskussionsrunden und Live-Sendungen übertragen. Somit haben alle Anwärter die Möglichkeit, sich direkt an die Wähler zu wenden. Es ist haltlos zu behaupten, daß es in Belarus ein Problem im Zusammenhang mit dem Zugang der Vertreter der Oppositionsparteien zu den Massenmedien - vor allem zu den digitalen - gibt. Oppositionspolitiker hatten in letzter Zeit über hundert Mal die Möglichkeit, im nationalen Fernsehen zu sprechen. Nach der belarussischen Gesetzgebung haben die Kandidaten nach ihrer Registrierung (unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung) Zugang zu allen Massenmedien.
Bereits heute können wir vermuten, daß im neuen Parlament alle sozialen Schichten der belarussischen Gesellschaft vertreten sein werden. Von allen registrierten Kandidaten sind 93 in den staatlichen Verwaltungsorganen, 85 in der Industrie, vierzehn im Bauwesen, acht im Verkehrswesen, neunzehn im Agrarsektor, fünfzehn im Dienstleistungssektor, 58 im Unternehmerbereich, 78 im Bildungswesen und der Wissenschaft, 27 im Gesundheitswesen, fünf in der Kultur und Kunst sowie vierzehn in den Massenmedien beschäftigt. 24 Kandidaten sind Vertreter gesellschaftlicher Vereinigungen, dreizehn sind Militärs, sechzehn Rentner, neunzehn derzeit nichtarbeitende Personen und 274 Kandidaten sind Leiter aller Ebenen. Diese Ziffern belegen besonders aufschlußreich den demokratischen Charakter der Wahlkampagne. Oder mit anderen Worten: Wer den Wunsch hatte, sich legitim an den Wahlen zu beteiligen, der hatte auch alle entsprechenden Möglichkeiten. Die Behörden gaben keinerlei Beschränkungen vor. Andererseits wird sich jeder Wahlberechtigte der Republik Belarus an der Bildung des Vertretungsorgans beteiligen können, indem er in sein Wahllokal geht und seine Stimme abgibt.
Die belarussischen Behörden sind daran interessiert, daß internationale Beobachter bei den Parlamentswahlen anwesend sind. Die politische Führung will aufrichtig, daß sich ausländische Vertreter vom demokratischen und transparenten Charakter unserer Wahlen überzeugen. Als Beobachter sind nach vorläufiger Vereinbarung Abgeordnete aus Armenien, Bulgarien, Griechenland, Zypern, Kasachstan, Litauen, Lettland, Moldowa, Polen, Rumänien, der Slowakei, Estland und Jugoslawien eingeladen. Vertreter der GUS-Länder - eine große Delegation der Russischen Föderation, der Ukraine und anderer Länder - sowie Deutschlands, der Türkei, Tschechiens, Polens und der USA sagten offiziell zu, zu den Wahlen für die Nationalversammlung nach Belarus zu kommen. Belarus steht allen offen. Wir haben nichts zu befürchten und nichts zu verheimlichen. Kommen Sie zu uns und überzeugen Sie sich selbst! Die Haltung der Führung der Republik Belarus bezüglich der Wahlen besteht somit in dem Streben, gleiche Bedingungen für alle Kandidaten zu gewährleisten, damit tatsächlich würdige Menschen ins neue Parlament einziehen, die das Vertrauen der Gesellschaft genießen. Präsident Lukaschenko hat keine "eigene" Partei und wird sich in seiner Arbeit vor allem auf die neugewählten Parlamentsmitglieder stützen müssen. Wenn hierzu auch Mitglieder des jetzigen Parlaments gehören werden (laut Registrierung wollen sich 55 Abgeordnete einer Wiederwahl stellen), dann sind dies von der Zeit geprüfte Abgeordnete, die ihre Wähler nicht verraten haben und des Vertrauens der Bevölkerung würdig sind. Diese Konsequenz ist eine sehr wertvolle Sache, zumal solche Praktiken auch in Parlamenten anderer Staaten begrüßt werden.
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